7. Familienbeziehungen

Im dritten Jahr ihrer Ehe wurde Barbara geboren. Ursula Rein war glücklich mit ihrem Kind. Aber es gab da einen Stachel, den sie nicht los wurde: Wenn sie das Kind wickelte und säuberte, sah sie die Rötung auf der Haut mit tiefer Angst. War sie nicht sorgfältig genug? Der Kinderarzt hatte sie zwar beruhigt, aber war es nicht seitdem schlimmer geworden? Die Kleine hatte heute auch lustloser getrunken. War es genug gewesen? Dann wurde sie ängstlich und unruhig. Sie machte sich mit dem Kind zu schaffen. Das ließ sie ruhiger werden.
Ursula Rein kann nicht erkennen, dass die Quelle der Angst in ihr selbst liegt. Sie macht belanglose Sachen bei ihrem Kind dafür verantwortlich. Das Kind seinerseits macht die Erfahrung, dass die Mutter um es ständig besorgt ist und gewinnt die Überzeugung, dass es ein schlechtes Kind ist.
Ihr Mann hatte in dieser Sache eine klare Meinung. Er ging davon aus, dass seine Frau das Kind gut versorgte. Aber diese Zuversicht ihres Mannes half Ursula überhaupt nicht. Ihr Mann konnte die tiefe Wunde in ihrem Selbst, die sie so ängstlich machte, nicht heilen. Das war das eine. In der Tiefe ihrer Seele gab es einen Kampf, der noch weit schlimmere Folgen hatte.
Ursula Rein hatte die ehrliche Absicht gehabt, ihrem Mann eine gute Frau zu sein. Sie hatte sich ihm ganz überlassen, ihren Körper, ihr Leben und ihre Zukunft. Sie kochte für ihn, wusch seine Socken, Unterhosen und Taschentücher. Sie hielt das Haus sauber. Sie stand auf, wenn er aufstand und sie ging mit ihm zu Bett. Sie schlief mit ihm, wenn er es wollte – oft jedenfalls. Wenn es für seine Position in der Firma wichtig war, ging sie mit zu Veranstaltungen und sie trug die Kleider, die eine Frau seines Standes zu tragen hatte. Jetzt, vor der Geburt des Kindes hatte sie auch ihr Studium aufgegeben. Das alles tat sie gern und er genoss es sichtlich.
Aber sein Stolz heilte ihre Seelenwunden nicht. Im Gegenteil, sie hatte das Gefühl, dass er sie mehr und mehr auslöschte. Sie hatte das Gefühl, dass er sich von ihr nahm oder bei ihr liegen ließ, wie es ihm passte. So unterwarf er sie. Das war keine äußerliche Herrschaft. Jeder Außenstehende hätte gesagt, dass Ursula Rein vom ersten Tag an in der Ehe die dominante Rolle hatte. Sie sagte ihm mit leiser Stimme, was er tun sollte, und er tat es bereitwillig. Es machte ihm nichts aus, weil er seine Frau lieben wollte, und weil sie besser als er wusste, was sie wollte, wenn auch er den besseren Realitätssinn hatte, auf den sie sich bei ihren Entscheidungen stützte.
Aber das half ihr alles nicht. Ursula Rein, die sich ganz in den Dienst der Familie, d. h. ihres Mannes und des Kindes, stellte, bekam das Gefühl, dass sie ihr Selbst aufgab. Sie gab alles, und so blieb ihr für sich selbst nichts.
Sie erschrak, weil sie Hass brauchte, um Distanz zu ihrem Mann zu bekommen, um neben ihrem Mann überhaupt sein zu können. Zunächst nur selten und wenig, dann mehr und mehr. Er aber bekam von all dem nichts mit. Und das war in ihren Augen das Schlimmste.
Ihre Mutter konnte Ursula Rein nicht um Rat fragen, wenn es um die Versorgung ihres Kindes ging. Sie musste fürchten, von ihr zu hören, dass ihre Zweifel berechtigt waren; denn ihre Mutter konnte von ihren Vorurteilen nicht ablassen. Ursula Rein kannte ihre Mutter nur als depressive, ewig nörgelnde Frau, die ihre positive Lebenseinstellung gegenüber ihrer Tochter nie sichtbar werden ließ.
Was also sollte Ursula Rein mit ihrer Furcht machen, sie sei keine gute Mutter? Sie verstärkte ihre Bemühungen um Barbara. Sie war immer zur Stelle, wenn die Kleine sie brauchte. So widerlegte Ursula Rein immerfort ihre Ängste. Das Kind gedieh.
Die Ängste und ihre Widerlegung waren etwas, was die beiden, Barbara und ihre Mutter, ganz allein miteinander abmachten. Es war das Bedürfnis der Mutter, ein sattes Kind zu sehen, aber nicht seinen Hunger. Es war der Wunsch der Mutter, ein lachendes Kind zu sehen, Weinen war eine Anklage.
Ursula Rein bemerkte nicht, dass sie in ihrem Kind sich selbst sah, sich selbst als Säugling. Sie war dieser Säugling, den sie, ohne es zu ahnen, in Barbara fütterte, den sie hätschelte und den sie liebte. Aber der Säugling in ihr blieb unbefriedigt, der hatte seinen Groll gegen die Welt und die Menschen um sich herum nicht verloren. Es war die unverarbeitete Wut ihrer frühen Kindheit. Ursula Rein versuchte, ihn durch ihre Perfektion zu widerlegen.
Wenn ihr Mann abends nach Hause kam, bemerkte er eine etwas erschöpfte Frau. Der Haushalt war in Ordnung, sein Essen war fertig, das Kind versorgt. Aber es kam immer seltener vor, dass sich die Eheleute aufeinander freuten. Es war auch kaum noch Begehrlichkeit zwischen ihnen. Es war zu selten, dass Ursula Rein, wie flüchtig auch immer, ihr Kind vergaß. Ihrem Mann gelang es nicht, sie davon zu überzeugen, dass es neben ihrem Kind noch anderes, wichtiges und schönes im Leben gab. So war Ursula Rein nur Mutter und hatte vergessen, wie sie es geworden war.
Barbara spürte das natürlich nicht. Aber sie spürte eines: Es gab zu wenig Augenblicke in ihrem jungen Leben, in denen ihre Mutter sie allein gelassen hätte. So blieb ihr Selbst schwach.
Unmerklich war die Lust an dem Kind zur Besorgnis geworden. War es erst nur der Zweifel, ob sie als Mutter gut genug war, so waren später daraus Probleme von Barbara geworden. Und auch da gab es eine Entwicklung. Erst machte sich die Mutter Sorgen um das Kind, dann machte das Kind Schwierigkeiten, dann war seine Entwicklung gestört und schließlich war Barbara eine Kranke. Rückblickend wird die Mutter sagen, dass Barbara immer schon ihr Sorgenkind gewesen sei. Und als die Ärzte später von Erbfaktoren im Zusammenhang mit der Krankheit von Barbara sprachen, hatte sie endlich eine Erklärung dafür, dass es so früh schon Schwierigkeiten mit Barbara gegeben hatte.
Lothar Rein erfuhr von den Schwierigkeiten, die Barbara machte, durch die Erzählungen seiner Frau. Erst wollte sie nicht gestillt werden, dann spuckte sie. Probleme im Kindergarten kamen hinzu. Sie erzählte erfundene Schauergeschichten usw.
Ursula Rein konnte tagelang deswegen nicht schlafen, immer wieder kam sie in den Unterhaltungen mit ihrem Mann darauf zurück.
Ich verstehe das nicht. Das Kind hat doch alles.
Manchmal empfing sie ihn schon an der Tür: Stell dir vor, was sie wieder angestellt hat!
Früher hatte ihr Mann erzählt, was er den Tag über in der Firma gemacht und erlebt hatte. Obwohl sie wenig davon verstand, hörte sie es doch gern. Später kam es ihr so vor, als stopfe ihr Mann seine Geschichten in sie hinein. Dann aber kam eine Zeit, da war gar keine Zeit für solche Berichte. Die Probleme mit Barbara bestimmten die Abendunterhaltung.
Es gab eine unausgesprochene Übereinstimmung zwischen den Eheleuten, dass es etwas Bedrohliches gab, das auch irgendwie mit Barbara verbunden war, aber auch noch von ihr ferngehalten werden konnte. Diese gemeinsame Aufregung über Barbara ersetzte eine Auseinandersetzung der Eheleute untereinander anderer Art, nämlich über die Enttäuschungen, die sie einander zuschrieben. Vielleicht konnten oder wollten sie darum auch nicht die Frage stellen, warum Barbara all diese Dinge tat. Sie hatten, so gesehen, beide ein unbewusstes Interesse an den Auffälligkeiten von Barbara.
Barbara war so in das Zentrum des Familienlebens gerückt. Es drehte sich alles um sie. Sie stabilisierte die Ehebeziehung.
Mit den Jahren veränderten sich diese Unterhaltungen. In die Berichte von Ursula Rein schlichen sich Vorwürfe ein.
Die Lehrerin hat mir erzählt, dass Barbara  ständig auf die Toilette gehen muss. Das tut sie doch hier nicht. Und nach einer Pause:
Nun sag doch mal was dazu! Dich scheint die Sache überhaupt nicht zu interessieren.”
Die Sache wurde prekär, als Frau Rein schließlich ihren Mann für die sorgenvolle Entwicklung Barbaras verantwortlich machte. Erst unausgesprochen, dann offen, warf sie ihm seine Ignoranz, sein geringes Engagement, schließlich seinen ”pathologischen” Charakter vor. Das war Ursula Reins Kriegserklärung an ihren Mann, der sie ohne Zögern erwiderte.
Die Konstellation war von da an eine andere. Lothar Rein hatte nicht nur eine Frau, die sich feindselig gegen ihn verhielt, und eine Tochter, die zu missraten drohte, sondern er musste sich nun mit dem Vorwurf auseinandersetzen, dass er an allem schuld sei.
Und das war darum so bedeutsam und für die Familienkonstellation so verheerend, weil er unbewusst diese Zuschreibung annahm.
Und doch gab es ein  tiefes Gefühl der Loyalität zwischen beiden.
Immer wieder versuchte Ursula Rein, sich beim Kinderarzt wegen Barbara Rat zu holen. Der bemerkte, wie es um Ursula Rein stand. Aber was sollte er anders tun, als zu versuchen, ihr die Ängste zu nehmen?
Alle Kinder haben Probleme im Laufe ihrer Entwicklung. Sie spucken oder schreien, haben Angst oder machen ins Bett, haben Bauchschmerzen oder Kopfschmerzen. Das sind normale Schwierigkeiten.
Mit der Zeit bekam er freilich mit, dass Barbara nichts ausließ. Es gab so gut wie keinen Abschnitt ihrer Kindheit, der nicht überschattet gewesen wäre von den Sorgen, die sich ihre Mutter wegen irgendeines Symptoms machte.
Die Mutter sprach mit Barbara über das, was ihr Sorgen machte. Aber sie machte ihr kaum Vorwürfe. Sie sah nicht das Aggressive im Verhalten ihrer Tochter. Erst nachdem Barbara durch die Pubertät war, empfand die Mutter schon mal heftige Gefühle von Wut ihr gegenüber.
Als Barbara 4 Jahre alt war, wurde ihre Schwester geboren. Cornelia war ein ruhiges Kind. Von Ursula Rein wurde viel Disziplin in der Anfangszeit verlangt, das Kind mit allem zu versorgen, denn Barbara verstärkte mit dem Auftauchen der kleinen Schwester ihre Unarten.
Für die kleine Schwester hatte dies Vorteile. Sie bekam eine unaufdringliche Liebe von ihrer Mutter und so verlief ihre Entwicklung in ruhigen Bahnen.
Die Eltern und auch Barbara nahmen wie beiläufig zur Kenntnis, dass Cornelia größer und älter wurde. Es wäre aber auch richtig zu sagen, sie nahmen es eigentlich nicht zur Kenntnis.
Es war Cornelias Strategie, sich möglichst unauffällig zu verhalten. Das rettete sie.
Sonntag in zwei Wochen sind dein Vater und ich eingeladen. Ihr sollt beide mitkommen, sagte Frau Rein zu ihren Töchtern.
Prima, war Cornelias Antwort.
Nach zwei Tagen erwähnte sie beim Mittagessen:
In einer Woche schreiben wir einen Mathetest.
Zwei Tage später:
Der Mathetest ist übrigens am Montag. Ich brauche das ganze Wochenende zur Vorbereitung. Halt, Samstag geht nicht, da muss ich mich mit Lene treffen.
Muss das sein, mit Lene? fragte die Mutter. Geht das nicht an einem anderen Tag? Dann könntest du dich am Samstag auf den Test vorbereiten und Sonntag mitgehen.
Au, die Verabredung am Sonntag habe ich ganz vergessen. Ich würde gern mitgehen. Aber das mit Lene kann ich nicht absagen. Sie muss mir genau erklären, was wir in Englisch machen.
Manchmal gab dann die Mutter auf. Wenn sie aber  darauf bestand, dass Cornelia den Sonntag frei machte, würde Cornelia einlenken:
Ich werde mit Lene sprechen, dass wir den Termin verlegen.
Ein oder zwei Tage später:
Lene kann den Termin nicht verlegen. Du musst mir auch bei der Näharbeit helfen. Die kriege und kriege ich nicht fertig.
Entweder gab die Mutter jetzt auf oder dieses Spiel ging noch eine Weile so weiter, bis klar war, dass Cornelia am Sonntag zu Hause blieb.
Cornelia hatte ein großes Repertoire an Entschuldigungen: Bauchschmerzen, Migräne, Schularbeiten, Treffen mit Freunden, die unabweislich waren, später ihre Tage. Sie fand fast immer einen Grund, der es selbstverständlich machte, dass sie sich von der Familie absondern konnte, ohne dass es wie eine Absonderung aussah. Im entscheidenden Augenblick saß sie vor ihrem Schreibtisch oder lag im Bett und die Familie machte sich ohne Cornelia auf den Weg, als gäbe es sie gar nicht.
Als Barbara damit anfing, sich in die Arme zu schneiden, war es zunächst noch vergleichsweise harmlos. Es waren eher Kratzer. Ohne genau zu wissen warum, zeigte Barbara es ihrer Schwester. Es war vor dem Schlafengehen im Zimmer von Cornelia. Barbara war schon im Nachthemd. Sie kam, zog den Ärmel hoch und hielt ihr den linken Unterarm hin:
Da! Hab ich selber gemacht. Barbara atmete schwer. Sie guckte verzückt auf das Blut, das in kleinen Streifen, den Arm entlang sickerte.
Du darfst es keinem erzählen!
Tu ich nicht, sagte Cornelia.
Die ältere Schwester tat etwas, was verboten schien; denn sie tat es heimlich und verlangte Verschwiegenheit. Als Cornelia im Bett lag, dachte sie noch daran. Was hatte das zu bedeuten? Wenn man sich versehentlich schnitt, tat es weh, es blutete und es geschah eben aus Versehen. Was Barbara machte, war unheimlich und interessant. Cornelia war neugierig, was daraus werden würde. Es war eine kurze Erregung, die sie selbst spürte, und dann schlief sie ruhig ein.
Nie wäre Cornelia auf die Idee gekommen, den Eltern oder irgend jemand anderem etwas zu erzählen. Die Nachricht, die sie empfing, war tief in ihr verborgen, und es war für sie auch nicht schwierig, die Dinge für sich zu behalten. All diese aufregenden Ereignisse sickerten in sie hinein, wie Wasser in Sand, ohne Spuren zu hinterlassen. Was immer auch in der Familie geschah, Cornelia überstand es unbeschadet.
Cornelia gedieh im Windschatten von Barbara.
Die Mutter hatte gekocht. Barbara nahm sich eine Kartoffel, ein Stück Gemüse. Cornelia aß mit Appetit. Die Mutter versorgte den Vater, gab ihm das Essen auf den Teller. Sie plauderte dabei mit Cornelia. Es war ein vertrautes Gespräch zwischen Mutter und Tochter. Die Unterhaltung mit Barbara war wortkarger. Barbara sprach leise. Sie murmelte mehr, als dass sie sprach. Sie beteiligte sich auch nicht an der Unterhaltung. Wenn sie in die Unterhaltung zwischen Mutter und Cornelia über den Film, den Cornelia mit einer Freundin gesehen hatte, hinein platzte und danach fragte, ob das Gemüse mit Öl oder Butter zubereitet sei, wirkte das skurril. Aber die Mutter hatte für Barbara eine intensive unterschwellige Aufmerksamkeit. Sie spürte die Aggressivität, die darin lag, und reagierte gereizt. Die Frage selbst erschien ihr absurd und überflüssig. Aber sie war trotzdem sehr auf Barbara bezogen, sie reagierte immer und sofort auf Barbara. Sie unterbrach die Plauderei mit Cornelia, um auf die Frage nach dem Öl und der Butter zu antworten.
Warum ist das denn wichtig?
Barbara murmelte etwas von Kalorien und Wasser und Gesundheit. Die Mutter verstand nicht, wollte zanken. Barbara zog sich zurück. Es sei ja alles nicht so wichtig. Die Mutter war nun doppelt frustriert, weil ihre Antwort nicht mehr nur als unbefriedigend, sondern auch als unnötig deklariert wurde.
Also gut, was willst du wissen? insistierte die Mutter.
Das Gemüse muss frisch sein, nicht aus der Büchse.
Ist es.
Nur Öl, keine Butter.”
Ist es auch, sagte die Mutter. Es ging um einen vegetarischen Kartoffelauflauf mit Gemüse.
Aber da ist doch auch Sahne drin.
Nur ganz wenig, sonst schmeckt es doch nicht, räumte die Mutter ein.
Barbara schob ihren Teller wortlos von sich und aß nichts. Nun kochte die Mutter über:
Ich habe mir solche Mühe gegeben. Ich habe mir eigens überlegt, was du gerne isst. Ich überlege, was gesund für euch alle ist. Ich kann dafür auch ein bisschen Dankbarkeit erwarten. Ein bisschen nur!
Das waren Argumente, die sie schon unzählige Male gebraucht hatte. Aber Cornelia ging dazwischen, indem sie auf ein Schulproblem hinwies, das sie noch zu lösen hatte. Damit zog sie die Aufmerksamkeit der Mutter wieder auf sich.
Der Vater aß wie die anderen und wurde auch von seiner Frau angemessen bei der Essensverteilung berücksichtigt. Aber nicht nur, dass er nicht sprach, die drei Frauen unterhielten sich so, dass eine Reaktion des Vaters weder erwartet wurde noch irgendwie ihren Platz gehabt hätte. In der Schulsache – es ging darum, dass Cornelia sich auf eine Arbeit in Biologie vorbereiten musste – wollte er wissen, wie Cornelia in dem Fach stand. Cornelia selbst gab eine sehr knappe Antwort und wandte sich wieder der Mutter zu.
Für die Mutter war es ein Anlass, sich an den Vater zu wenden:
An deiner Uninformiertheit erkennt man dein fehlendes Interesse an Cornelia und an ihren schulischen Leistungen.
Der Vater antwortete nicht minder aggressiv: Du verstehst doch selbst nichts von Biologie.
Darauf die Mutter:
Die Kinder und ich sind es satt, sich von dir immer solche Frechheiten anhören zu müssen.
Der Vater grinste hämisch, Cornelia blickte resigniert zum Himmel, verstärkte noch einmal ihren Hinweis an die Mutter, sie müsse nach dem Essen ihre Arbeit für die Schule machen, Barbara begann, aufmerksam in ihrem Essen herum zu stochern, und die Tafel wurde rasch aufgehoben. Die Kinder stellten die Teller zusammen, Lothar Rein  ging in sein Arbeitszimmer zurück. Die Arbeit des Abräumens blieb für die Mutter.
Die Familienkonstellation ist also so: Die Mutter hat gekocht. Barbara kritisiert die Mutter über ihr Mäkeln am Essen. Cornelia will ablenken, offensichtlich um die Mutter zu schützen, und macht ein Schulproblem zum Thema. So wie die Frauen darüber sprachen, fühlte sich der Vater ignoriert, was er als feindseliges Verhalten verstand. Mit seiner Frage nach der Biologie wollte er in Erinnerung bringen, dass er auch anwesend war. Das nahm die Mutter zum Anlass, alle Feindseligkeit gegen ihn zu lenken, und sich als Wortführer der Kinder darzustellen.
Später kam Robert, der Anwalt und Freund der Familie. Er wollte mit Herrn Rein etwas bei einem Glas Wein besprechen. Robert war guter Laune, machte Frau Rein ein gelungenes Kompliment, und die gab es mit einem Lächeln an Lothar weiter.
Macht es Euch bequem, geht schon in das Arbeitszimmer, ich bringe Euch was zu trinken.
Als sie den Wein brachte, meinte Robert: Setzen Sie sich doch einen Augenblick. Ich muss Ihnen und Ihrem Mann etwas erzählen.
Er lachte.
Ich hatte heute eine kleine Sache. Eine Strafsache, die ich für einen Bekannten übernommen hatte. Es war ein junger Mann in schwarzer Kleidung, gothic nennen sie es. Haben Sie bestimmt schon mal gesehen. Die Männer laufen in einem langen schwarzen Rock rum. Der Junge sollte etwas geklaut haben, hat er aber mit Sicherheit nicht und war auch leicht zu beweisen. Jedenfalls saß er da, ziemlich kleinlaut und war auch sehr freundlich. Alle waren in schwarz, der Richter und die Angestellte und der Staatsanwalt und ich in unseren Roben und der junge Mann in seiner Kluft. Das war wie eine schwarze Messe. Der Richter gab sich umgänglich, weil er die Sache auch schnell durchschaut hatte. Plötzlich schreit die Justizangestellte, springt auf und rennt zur Tür. Wie eine Eule sah sie aus mit der flatternden Robe. Eine weiße Ratte läuft über den Boden. Der Richter guckt die Ratte an und  ruft:
Bitte gehen Sie in den Zuschauerbereich!
Aber die Ratte hörte natürlich nicht auf die Stimme des Rechts. Nach einer Schrecksekunde mussten alle lachen. Kevin hat die Ratte im Nu eingefangen und in seinen Kleidern versteckt. Sein Maskottchen, sagt er. Die Justizangestellte steckte den Kopf durch die Tür und wollte wissen, ob die Ratte weg sei. Sie würde sonst nicht mehr rein kommen.
So eine kleine Ratte kann unser Rechtssystem schnell lächerlich machen, meinte Ursula. Wenn aber das Recht nicht so ehrwürdig daher käme, würde es keiner beachten.
Ja, bestätigte Robert, aber dieser Richter ist ein souveräner Mann. Er hat am meisten über sich selbst gelacht, dass er in der ersten Überraschung die Ratte zur Ordnung rufen wollte. Und dem armen Jungen hat er es nicht übel genommen.
Eine Ratte in unserem Haus, nein, das würde ich nicht aushalten, was meinst du Lothar?
Lothar schüttelte sich.
Wie man sieht, gingen die beiden nicht immer so hasserfüllt miteinander um. Zum Beispiel, wenn sie in Gesellschaft von Fremden waren, dann war der Umgang der beiden miteinander freundlich. Das war nicht, weil sie vor anderen ihren Streit verbergen wollten, sondern weil sie in der Gegenwart anderer besser in der Lage waren, ihre emotionalen Reaktionen zurück zu halten.. Man kann darum auch nicht daran zweifeln, dass es noch Positives, Verbindendes zwischen beiden gab. Z. B. dass sie bis zum Tode von Lothar Rein beieinander geblieben sind, war ein Ausdruck ihrer Treue zueinander.
Im Hause der Reins gab es noch einen Menschen, der aber von den anderen eher wie eine Unperson behandelt wurde, nämlich die türkische Putzfrau Yilmaz. Man war freundlich zu ihr, bezahlte sie gut und schätzte ihre Arbeit. Darum kam sie schon seit vielen Jahren. Aber sie war für die Menschen im Hause nicht ein Wesen mit einem Lebenshorizont, mit Sorgen und Erwartungen. Sie war eher ein Teil des Inventars, wenn auch ein kostbares Stück. Nur Cornelia machte da eine Ausnahme. Sie hatte irgendwann zur Kenntnis genommen, dass Yilmaz auch Probleme mit ihrem Mann hatte, dass ihr die beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen öfter Sorgen machten. So kam es, dass Cornelia die einzige war, der Yilmaz schon mal davon erzählte. Cornelia war auch die einzige, die fragte und  die mitbekam, dass die Tochter eine Ausbildung als Arzthelferin machte und dass der Sohn nach einer schwierigen Phase, in der er sich herumtrieb, schließlich doch sein Fachabitur machte und dann Maschinenbau studierte.
Der Lohn für das Interesse von Cornelia war, dass Yilmaz sie wie eine Tochter liebte. Als Cornelia heiratete, verlor sie das Mädchen aus den Augen. Aber nach der Scheidung traf sie sie gelegentlich, und Cornelia empfand immer eine große Beruhigung in Gesellschaft dieser türkischen Frau, die nie gut deutsch lernte.
Ursula Rein fühlte sich nicht ganz, wenn sie nicht die emotionale Unterstützung eines Menschen hatte, den sie als mächtig und sicher erlebte. Diese Unterstützung, die jedes Kind braucht, hatte ihr ihre Mutter vorenthalten, und sie hatte die unbewusste Erwartung an Lothar Rein, dass er ihr das bieten könnte. Aber das konnte er natürlich nicht: Erstens weil er nicht wissen konnte, was sie in jedem Augenblick ihres Lebens an emotionaler Unterstützung brauchte, zweitens weil Ursula Rein, ohne es zu merken, ihn entwertete, drittens weil Lothar selbst Unterstützung ähnlicher Art brauchte.
Lothar als Kind im Dienste seines Vaters gestanden, musste ihn emotional stützen. Ohne dass es der Vater bemerkte, hat er den Sohn missbraucht. Auch Lothar hatte ein tiefes Gefühl der Unvollkommenheit, weil er den Vater nicht von seiner depressiven Bedürftigkeit hatte befreien können.
Beide Eheleute suchten im jeweils anderen die elementare Bestätigung, die sie als Kind nicht bekommen hatten. Unvollkommen, wie sie sich fühlten, fühlten sie sich unbewusst auch schlecht. Im anderen suchten sie die Bestätigung, dass sie heil und gut waren.   Das ist die Nähe, die sie suchten, die aber immer mit einer Enttäuschung endete.
Ein Ausweg für Ursula Rein war es, ihre vermeintlich schlechten Eigenschaften auf Barbara zu projizieren. Dafür durfte Barbara sich nicht von ihr trennen. In der Sorge um Barbara konnte sich die Mutter also gut fühlen, was heißt, dass sie die Krankheit von Barbara brauchte.
Lothar benutzte dafür teils Barbara, teils seine Frau  und er hatte seine berufliche Tätigkeit, blieb also innerlich auf Distanz zu seiner Frau und den Kindern. Das wiederum bestärkte Ursula darin, dass sie keine andere verlässliche Beziehung hatte als die zu ihrer Tochter. Ohne Barbara wären die Eheleute, oder zumindest einer von beiden, vielleicht depressiv geworden.
Cornelia spürte intuitiv, dass ihr Heil darin lag, sich aus dieser Konstellation fern zu halten. Der Preis, den sie dafür zahlte, war, dass sie eine durch und durch unauffällige Person wurde.
Cornelia war nicht hässlich, aber auch nicht schön, nicht laut, aber auch nicht besonders schweigsam, nicht verführerisch, aber auch nicht abweisend. Später, als sie diese Strategie nicht mehr brauchte, war sie ihr hinderlich. In ihrer Ehe führte es dazu, dass ihr Mann das Interesse an ihr verlor. Man ist geneigt zu sagen, er vergaß, dass er mit ihr verheiratet war. Es kam zur Scheidung, und Cornelia hat sich, wie so oft in ihrem Leben, geduckt.  Ihre zwei Kinder haben sie aber für vieles entschädigt.


Zum Kapitel 8: Beruf und Familie