6. Erwartungen

Ursula Ruge, später Rein, war ein blondes, zierliches Mädchen. Sie war hübsch, hatte Charme und fiel in der Öffentlichkeit durch ihre lustige Art auf. Als Studentin sah man sie meist in Gesellschaft ihrer Freundinnen.
Keine dieser Freundschaften hat die Jahre überdauert – was etwas über die Art dieser Freundschaften sagt.
Ursula Ruge genoss die Freiheiten des Studentenlebens, blieb aber, was ihre Liebschaften betraf, zurückhaltend. Sie hielt ihre Verehrer in der Regel so freundlich auf Distanz, dass sie die Beziehung zu ihr nicht abbrachen. Im übrigen war sie eine fleißige und erfolgreiche Studentin. – Das war das Bild, das Ursula Ruge von sich erzeugte. Vielleicht war es auch nur das Bild, das Lothar Rein von ihr hatte. Dass sie eine Hautkrankheit hatte und oft niedergeschlagen und schlecht gelaunt war, wenn sie allein war, das wusste er nicht.
So wie Ursula Ruge war und so wie sie sich nach außen präsentierte, das war nicht dasselbe. Was sie in der Öffentlichkeit präsentierte, war, wie sie sein wollte. Es war auch geleitet von einem Zweck, nämlich beliebt zu sein und einen für sie attraktiven Mann für sich zu gewinnen. 
Lothar Rein war eher ein Einzelgänger. Das Alleinsein entsprach seinem Wunsch, doch spürte er auch, dass er auf diese Weise keine Karriere würde machen können. Er war ehrgeizig. Also ging er in eine studentische Verbindung, wo er sich mit Eifer engagierte, und da er aufrichtig höflich und bescheiden war, wurde er bald geschätzt. Allerdings gab es niemanden, der sich als sein Freund betrachtet hätte. Man hatte ihn gern, aber er stand keinem nahe.
Lothar war schüchtern, und er war gehemmt, wenn er Menschen nahe kam. Wenn die Beziehung von Sachfragen geleitet wurde, wie im  Beruf, hatte er damit keine Probleme.
Lothar hatte lange keine Freundin, obwohl er sich für Frauen interessierte. Lothar Rein wollte eines Tages heiraten und Kinder haben. Aber um eine Familie zu gründen, musste er in der Lage sein, sie zu ernähren.
Er wartete, bis er nach Abschluss seines Studiums die ersten Erfolge in der neuen Firma verbuchen konnte. Er war nun Ende Zwanzig und hielt die Augen offen, um zuzupacken, wenn ihm die Rechte begegnete. Schön sollte sie schon sein, freundlich und gebildet. So fiel seine Wahl auf Ursula Ruge, die er über einen Verbindungsbruder bzw. dessen Freundin kennen lernte.
Zum ersten Mal trafen sich die beiden auf einem Fest der Verbindungsstudenten von Lothar. Der hatte zwar schon vor ein paar Jahren sein Studium erfolgreich abgeschlossen, aber nun als „alter Herr“, wie er dort hieß, ging er gern zu den Festlichkeiten. Ursula hatte eine Freundin, deren Bruder in der gleichen Verbindung war und über diese Freundin wurde sie auch eingeladen.
Die brauchen Frauen, und eine hübsche wie du, na, darum reißen die sich doch, meinte sie.
Es war etwas steif, aber wenigstens waren die jungen Männer gut angezogen, mit Krawatte, und sie bemühten sich, ihren Bierkonsum in Grenzen zu halten. Tanzen konnten die wenigsten gut, leider, dachte Ursula. Es gab eine Tombola, zugunsten irgendwelcher armer Kinder und Ursula wurde gebeten aus einem Topf  die Lose zu ziehen. Ein Scherzartikel fiel an Lothar. Es war ein Kissen, das furzte. Lothar musste sich immer wieder darauf setzen, was ihm peinlich war. Man sah es ihm an, und das ließ den Saal erst recht jedes Mal grölen. Ursula sah den großen Mann, sie sah auch seine Not und lachte ihn so lieb an, wie sie konnte. Damit war es um Lothar geschehen, wenn man so etwas von ihm überhaupt sagen konnte. Vielleicht passt es besser zu sagen, dass er von Ursula beeindruckt war.
Später, wenn sich Ursula über Lothar ärgerte, sagte sie schon mal: Du warst ein Hosenscheißer und bist ein Hosenscheißer. Aber an so was dachte sie jetzt nicht, sondern zeigte sich von ihrer besten Seite, wie sie es immer in der Öffentlichkeit tat.
Ursula bemerkte, dass Lothar gut aussah, wenn er auch etwas verklemmt wirkte. Sie nahm auch wahr, dass er schon ein gewisses autoritäres Benehmen hatte, wie ein Mann in einer gehobenen Stellung. Aber hat ihr Unbewusstes auch registriert, dass er eine Frau suchte, die er hassen konnte? Und Lothar? Ursula gefiel ihm. Wie sie da auf der Bühne stand, mit einer Mischung aus Verlegenheit und hingebungsvoller Freundlichkeit, das fand er toll. Aber spürte er auch, dass sie bereit war, ihn für alles Böse verantwortlich zu machen, weil sie unfähig war, irgendetwas Unvollkommenes bei sich zu ertragen?
Nach der Tombola tanzte er mit ihr und fragte nach ihrer Telefonnummer, die sie ihm bereitwillig gab.
Er warb beharrlich und bescheiden um sie, mit einer Unbeirrbarkeit, die sich des schließlichen Erfolges sicher war. Sein Werben hatte sie zunächst nicht wahrgenommen, dann leicht irritiert registriert, weil es von Anfang an ernst und verbindlich gemeint war. Natürlich fragte sie sich, ob sie ihn liebte. Und ihre Antwort war am Anfang ein klares Nein.
Sie war 23 Jahre alt, und sie hatte schon mit einigen Männern geschlafen. Sie fand es aufregend und angenehm, aber es war oft auch beschämend und schmerzhaft und darum weiß Gott nicht der Gipfel des Lebens. So kam sie zu dem Schluss, dass die große Liebe im wirklichen Leben einer Frau nicht vorkommt. Viel später, als reife Frau, als sie schon lange nicht mehr mit ihrem Mann schlief, hatte sie gelegentlich wilde, leidenschaftliche Phantasien kompromissloser Erregung, die ihr klar machten, dass sie auf etwas verzichtet hatte.
Trotzdem oder besser aufgrund all dessen konnte Lothar Rein schließlich bei ihr Erfolg haben mit seiner einfachen Logik.
Wenn ich Glück habe, bin ich im nächsten Jahr Abteilungsleiter. Ich würde gern noch weiter kommen und ich werde es schaffen. Ich will eine Familie haben. Zwei Kinder wären ideal. Für die will ich sorgen. Eine Familie, mit der du dich auseinander setzen musst, habe ich nicht. Zu meinen Eltern habe ich wenig Kontakt. erklärte ihr Lothar. Und Ursula Ruge dachte:
Das will ich auch, einen Mann, Kinder, ein Haus, ein gesichertes Auskommen.
Die anderen Verehrer hatten von Liebe und Schönheit gesprochen. Aber das reicht zum Leben nicht.
Beide wollten materielle Sicherheit, ohne die sie sich eine Familie nicht denken konnten. Darin war die Bereitschaft enthalten, füreinander zu sorgen.
Lothar Rein meinte es aufrichtig, und so konnte er sagen, dass er seine zukünftige Frau liebte.
Ursula Ruge war nicht die erste Frau in seinem 30-jährigen Leben. Er hatte als Gymnasiast ein Mädchen gehabt, mit dem er ausging. Als Burschenschaftler ist er, mitunter auch von den Verbindungsbrüdern dazu animiert, ins Bordell gegangen. Nicht oft, weil es für seinen schmalen Geldbeutel zu teuer war, aber nach den ersten beklommenen Malen tat er es ohne Reue. Es entlastete ihn von seinem sexuellen Druck und es machte Spaß. Er verachtete die Frauen nicht für das, was sie taten, eher fühlte er Dankbarkeit für sie. Sie freuten sich an seiner Geilheit. Sie akzeptierten sein Verlangen mit Wohlwollen, ohne irgendeine andere Verbindlichkeit als die, dass er gut zahlte, und wenn er seinen Spaß hatte, war es ihr Erfolg. Lothar Rein wollte die Frauen in den Huren nicht demütigen. Er wollte, dass sie ihm gut taten, wenn ihn die sexuelle Erregung nicht mehr los ließ.
Es war eine kindliche Erwartungshaltung darin. In seiner Ehe führte sie zur Katastrophe. Lothar wollte eine mütterliche Frau, die ohne Scham seinen Körper mit all seinem Verlangen liebevoll pflegt und befriedigt. Und er verstand nicht, wieso aus der körperlichen Intimität mit seiner Frau Verpflichtungen anderer Art entstehen sollten.
Lothar hatte versprochen, für seine Frau und seine Kinder zu sorgen. Er tat es mit Hingabe und Fleiß. Nach seinem Verständnis war das die wirkliche Liebe.
Die Sichtweise seiner Frau, die ihm etwas von sich gab, wenn sie mit ihm schlief, die ihm nicht nur Befriedigung möglich machte, sondern sich selbst hingab, wie unausgesprochen in ihrem ängstlichen Herzen das auch blieb, verstand Lothar Rein nicht.
Lothar Rein warb lange Zeit um Ursula. Erst war sie eine Freundin, dann seine Freundin, schließlich ließ sie es zu, dass er von Heirat sprach, und dann willigte sie ein. Auch dann noch zögerte sie die Hochzeit hinaus. Aber endlich  wurde der Hochzeitstermin festgelegt.
In diesem Zögern verrät sich Ambivalenz. Es war also doch ein Bedenken in ihr.
Die Hochzeit wurde mit Aufwand gefeiert. Ursula Ruge, nun Ursula Rein, gab eine schöne Braut ab, und Lothar war stolz darauf. Ursula wirkte selbstbewusst, und die Mitgift konnte sich sehen lassen. Sie hatte das Leben noch vor sich.
Die Hochzeit wurde groß gefeiert. Lothar hatte seine Bundesbrüder eingeladen. Darin  kamen sich seine Eltern, einfache Leute, ziemlich verloren vor. Der Vater erzählte seinen Tischnachbarn davon, wie er seine kleine Barkasse durch den großen Hafen bugsierte, das war nämlich sein Beruf. Er wollte unter all den akademischen Leuten mit seinen Geschichten Gespräche vermeiden, die er nicht verstanden hätte. Die Eltern von Ursula waren Kaufleute. Der Vater führte das große Wort und Ursula hing an seinen  Lippen.
Für den Abend der Hochzeit war die Abfahrt des Brautpaares vorgesehen. Die beiden zogen sich um und setzten sich ins Auto. Begleitet von den anzüglichen Bemerkungen der Gäste fuhren sie ab. Ziel war Italien. Erste Station sollte ein romantisches Schlosshotel sein, gut eine Autostunde entfernt. Ursula Rein hatte es ausgesucht, vor Monaten schon. Nach einer halben Stunde Fahrt gab es eine Umleitung, die übers Land führte. Lothar war aufgeregt. Es war die Hochzeitsnacht. Ursula nickte immer wieder beim Fahren ein.
Ich bin so müde. In den letzten Tagen hatte ich so viel zu tun für die Hochzeit und heute war es auch so anstrengend, erklärte sie.
Lothar verfuhr sich. Sie landeten irgendwo im Wald. Eine genaue Karte hatten sie nicht bei sich. Handys gab es noch nicht, und Bauern gehen früh zu Bett. Also fuhren sie aufs Geratewohl in die nächste Kleinstadt, wo es ein Telefon gab. Die Adresse des Hotels hatte Ursula Gott sei dank bei sich.
Als sie ankamen, lag alles im Dunkel. Der Bedienstete, mit dem sie telefoniert hatten, machte ihnen auf.
Es tut mir leid. Die Heizung funktioniert nicht. Wir sind mitten in der Renovierung. Möchten Sie eine Wärmflasche für das Bett? fragte er.
Ursula, die mit ihrer Stimmung schon in der Nähe des Gefrierpunktes war, bat um zwei. Zu essen gab es auch nichts mehr. Das machte ihnen allerdings nichts aus, gegessen hatten sie ja bestens auf der Hochzeitsfeier. Ob er Champagner hätte oder wenigstens Sekt oder, wenn auch das nicht, vielleicht eine Flasche Wein, fragte Lothar.
Sorry, der Weinkeller ist abgeschlossen. Aber Bier habe ich, warten Sie mal. Er ging in die Küche.
Ja, ist noch eine Büchse da.
Lothar hatte den ganzen Tag nicht getrunken, weil er ja noch fahren musste. ”Schlosshotel”  hatte seine frisch Angetraute ihm gesagt. Aber eine Hochzeitsnacht mit Bier?
Lothar ließ seine Frau als erste ins Bad.
Kein warmes Wasser!
Er holte Wasser in einem großen Topf, das auf dem Herd der Küche zum Kochen gebracht worden war. Fröstelnd huschte Ursula ins Bett, das von den zwei Wärmflaschen vorgewärmt war. Lothar ging ins Bad, wusch sich kalt und putzte sich die Zähne. Er strich sich übers Kinn und beschloss, sich zu rasieren. Im Pyjama, den ihm seine Frau liebevoll zurecht gelegt hatte, kam er ins Bett, zu Frau und Wärmflaschen. – Das Bett quietschte. Ein paar Mal verrutschte die Bettdecke.
Mir ist kalt, sagte Ursula.
Jeder der beiden fühlt sich für die Situation verantwortlich, aber kann sich nicht eingestehen, dass er einen Fehler gemacht hat. Wenn sie das könnten, dann könnten sie auch gemeinsam fluchen oder darüber lachen und müssten nicht denken, dass der andere einem Vorwürfe macht.
Noch haben sich beide bemüht, die Pannen nicht tragisch zu nehmen. Aber das kann nicht lange gut gehen, weil sich die Frustrationen häufen werden. Entweder sie lernen, dass sie öfter Fehler machen; dann können sie dem anderen verzeihen, weil sie selbst auch Nachsicht brauchen. Oder sie werden die eigenen Schuldgefühle auf den anderen projizieren. Dann kommt heraus, dass sie den anderen für ihr Unglück verantwortlich machen, weil sie sich selbst für alles verantwortlich fühlen.
Als Ursula und Lothar Rein am Morgen aufwachten, war es immer noch ziemlich kalt. Aber der schöne Blick nach draußen in die Frühlingslandschaft und die Pracht des Zimmers, die sie am Abend nicht richtig wahrgenommen hatten, entschädigten sie. Das Frühstück war fürstlich, und mit einem Heizöfchen wurde es auch warm. Über die Hochzeitsnacht sprachen sie nicht, weder an diesem Morgen noch später. Tief in ihren Herzen machte sich Enttäuschung breit. Sie verübelten einander die Missgeschicke dieser Nacht. Improvisation, Romantik oder Humor lag ihnen fern. Aber das merkten sie noch nicht. Sie waren erleichtert, als es in den folgenden Flitterwochen annehmlicher wurde. Mit dem Wetter, dem Hotel und den Menschen in Italien waren beide zufrieden.
Sie fragten sich nicht, ob sie mit sich selbst oder dem Partner zufrieden waren. Aber wie hätte auch ihre Antwort aussehen können?


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