4. Barbara wird psychotisch

Barbara war in den letzten Tagen unruhig gewesen, noch unruhiger als sonst. Sie hatte auch schlecht geschlafen. Immer wieder hatte sie einen Traum. Sie wollte nach Hause gehen und fand das Haus nicht. Dann sah sie das Haus, das mehr einer Ruine glich. Sie lief hinein, weil sie dachte, dass es innen besser aussehen würde. Aber da war es noch schlimmer. Alles war verfallen und von grauem Staub bedeckt. Staub, von dem sie wusste, das Ratten ihn hinein getragen hatten. Wenn sie durch das Haus lief, wirbelte der Staub so heftig auf, das sie nichts mehr sehen konnte. Sie musste nach Atem ringen, drohte zu ersticken. Dann hörte sie ein lautes Männerlachen und wachte voller Panik auf.
Man kann diesen Traum als ein Bild der inneren Verfassung von Barbara deuten. Es ist gewissermaßen die letzte Verteidigungsbastion vor der Psychose. Sie versucht, den beginnenden psychischen Zerfall in ein Bild zu bringen. Das ist ein Versuch, alles noch einmal zu integrieren.
Schließlich legte sich die Angst auch tagsüber kaum noch. Es war Angst, die Barbara mit nichts verbinden konnte. Wovor hatte sie Angst? Zunächst half Geschäftigkeit. Aber es fehlte ihr die Konzentration. Als sie zur Bank ging, um einen Überweisungsschein auszufüllen, war sie unfähig, die Bedeutung der Rubriken zu erkennen. Als ein Bankangestellter zu ihr kam, um ihr zu helfen, war sie sich sicher, dass er ihr Vorhaltungen machen würde. Er würde ihr sagen, dass sie alles falsch mache, und überhaupt, hier, wo ernsthafte und vernünftige Menschen ihren Geschäften nachgingen, habe sie nichts zu suchen. Er würde sie scharf angucken und laut aus den Räumen weisen. Wie er mit der Hand den anderen schon Zeichen gab! Sie ließ alles liegen und lief hinaus.
Barbara kann nicht mehr sachlich denken. Sie bezieht alles auf sich, sieht sich im Mittelpunkt der Welt – wie ein kleines Kind. Sie erkennt in den Ereignissen Bedeutungen, die sie nicht haben. Zu erwachsenen, komplizierten psychischen Funktionen ist sie nicht mehr fähig.
Draußen war alles so laut, die Autos, die Menschen. Sie hielt sich die Ohren zu. Die Ampel sprang auf rot. Sie konnte nicht weiter. Zurück? Aber wohin? Bei rot über die Ampel? Hinter ihr, um sich herum drängten die Menschen, kreisten sie ein. Vor ihr fuhren die Autos, ganz dicht am Bürgersteig. Gleich würden die Menschen sie auf die Straße drängen. Einer wird das Zeichen geben.
Barbara verlegt die Angst, die sie wegen ihres Zustandes hat, nach außen.
Sie rannte los. Quietschen, Geschrei, wildes Hupen. Egal, sie rannte um ihr Leben. Sie würde sich nicht fangen lassen. Nein, sie gab nicht auf! Ein Gefühl des Triumphes überkam sie.
Das war knapp gewesen. Fast hätten sie sie gekriegt. Aber sie war eben gewitzt. Die hatten die Rechnung ohne den Wirt gemacht!
Dass sie sich selbst fast vor die Autos geworfen hätte, dass sie das Hupen und Bremsen verursacht hat, weil sie ohne hinzuschauen über die Straße rannte, das sieht Barbara nicht. Sie ist sich sicher, die wollten sie mit den Autos umbringen.
Sie wurde ruhiger. Barbara ging langsamer, betrachtete die Gegend um sich herum. Sie war im Zentrum der Stadt, zwischen hohen Häuserzeilen. Eine Straße ohne Geschäfte. In der Nähe war ein kleiner Park. Dorthin würde sie gehen.
Es hatte angefangen zu regnen. Die Ferne der Menschen tat Barbara gut. Nur eine ältere Frau sah sie, die ihren Hund ausführte. Aber hier im Park war das Wetter sehr ungemütlich, es blies ein kalter, nasser Wind, der den Bäumen zusetzte. Die Bäume bogen sich, stritten mit den Wolkenfetzen, die über den Himmel flogen. Es waren Giganten, die in den Himmel griffen, alles weg fegten, graue, weiße, schwarze Monstren. Das Geschrei des Windes tat ihr in den Ohren weh. Barbara war mitten in dieser Schlacht. Sie wuchs selbst zu einem Riesen. Sie war der Heerführer, siegreich. Sie triumphierte.
Auch das sind Projektionen ihres inneren Streites. Hoffnung, dass sie die innere Krise überwinden wird, wechselt mit Verzweiflung.
Sie fühlte den Regen auf ihrer Haut. Jeden Tropfen fühlte sie. Allmählich wurden die Tropfen, die sie trafen, stärker und trafen sie mit zunehmender Kraft. Es war ein Hagel von Geschossen. Den Wind empfand sie wie eine Mauer, die sich ihr entgegenstellte, den Himmel wie eine finstere Masse, die gleich auf sie herabfallen würde. Wohin? Was könnte sie schützen? Barbara wollte schreien, hob die Arme.
Was ist denn los, junge Frau? hörte sie eine Stimme. Die alte Frau mit dem Hund stand neben ihr und lächelte aufmunternd.
Ungemütliches Wetter, aber manchmal, na ja, da will man trotzdem nicht nach Hause. Die Alte sprach leise und besänftigend.
Kommen Sie, wir gehen hier ein bisschen lang.
Komm Lotti, komm hierher! lockte sie ihren kleinen struppigen Hund.
Er ist total verdreckt. Ich muss ihn ordentlich abrubbeln, bevor er zurück in die Wohnung kann.
Sie gingen gemeinsam ein Stück. Die Alte schlurfte mehr als dass sie ging.
Ist es denn so schlimm?” fragte sie nach einer Weile und als Barbara immer noch ohne Antwort blieb: Ich habe eine Enkelin, die ist vielleicht so alt wie Sie. Die hat eine ganze Zeit bei mir gewohnt, weil sie sich mit ihrer Mutter nicht so gut verstand. Jetzt ist sie zu ihrem Freund gezogen. Aber sie lässt sich nichts von ihm sagen.
Komm hierher Lotti! Lass das!
Barbara hörte zu. Es war eine beruhigende Stimme, die da auf sie einsprach. Die Alte schien bewegt. Es war ganz unaufdringlich, wie sie sprach, und es lenkte ab. Barbara war dankbar, dass sie weiter keine Fragen stellte. Sie gingen die kurzen kreisförmigen Wege entlang. Barbara wagte, der Alten ins Gesicht zu schauen. So alt war sie noch gar nicht. Die Frau lächelte.
Aber, durchfuhr es Barbara, dieser Blick, dieses Lächeln! Das war die Falschheit der Schlange. Das war viel gefährlicher als der offene Angriff. Man wollte sie wohl für dumm verkaufen! Sie sollte es nicht merken. Wie konnte sie nur dieser Stimme auf den Leim gehen? Fast hätte man sie überlistet. Barbara fühlte Angst und Wut.
Barbara ist paranoid. Aber es entspricht auch den frühesten Erfahrungen Barbaras, dass nämlich das, was ihr als Freundlichkeit entgegen gebracht wurde, von Barbara oft nicht positiv aufgenommen werden konnte.
Nein! schrie sie und rannte. Weg! Weg! Es war eine Falle, in der die alte Hexe lauerte.
Wieder rannte sie ziellos durch die Stadt, dachte manchmal, dass sie jeder hier kannte, dann wieder, dass sie niemals zuvor an diesem Ort gewesen war, triumphierte und verzweifelte fast zur selben Zeit.
Mehr als neun Stunden irrte sie durch die Straßen. Sie hatte nichts gegessen und nichts getrunken. Es war schließlich die körperliche Erschöpfung, die sie nach Hause trieb. Niemand war zu Hause. Völlig durchnässt vom Regen warf sie sich auf ihr Bett.
Sie weinte. Erst langsam, dann löste sich alles. Spannung und Schmerzen verschwanden. Der ganze Körper war nur noch eine Quelle von Tränen. Barbara überließ sich dem Fluss der Tränen. Ein Sturzbach wurde daraus, alles floss dahin. Ein Strom schließlich, ruhig, breit und unaufhaltsam. Barbara weinte und schluchzte alles aus sich heraus, die vielen Jahre, die mit Schmerzen angefüllt waren und das Unsagbare. So erst kehrte Ruhe in sie zurück. Sie spürte nichts als den Fluss der Tränen. Alle Erinnerung und alles Erleben verflüssigte sich und schwamm in dem breiten Strom dahin. Barbara weinte und weinte. Sie weinte so lange bis der Körper keine Flüssigkeit mehr für Tränen hatte. Barbara war ein ausgeleertes Gefäß, als sie endlich erschöpft einschlief.
So war die Psychose auch die Rückkehr zu sich selbst. Das was dem Selbst fremd war, fiel ab. Barbaras Angepasstheit, ihre Aggressionshemmung, der Verzicht auf die Liebe usw., all das hatte sie unter dem Druck der Verhältnisse auf sich genommen. Sie hatte es sich nie klar machen können, und auch jetzt konnte sie es so nicht sehen. Aber für eine kurze Zeit empfand sie Trauer um das, was verloren war, nämlich eine normale Entwicklung, in der sie wie alle anderen hätte empfinden können.
Die Trauer war ein Schritt in Richtung normaler Empfindung. Aber es reichte nicht aus.
Als Barbara nach einigen Stunden aufwachte, hörte sie zum ersten Mal die Stimmen. Genau genommen war es erst eine Stimme, die sie auf ziemlich üble Weise beschimpfte. ”Schlampe, Hure, alte Schnecke” hörte sie sagen. Barbara fragte sich nicht, wer da sprach. Sie suchte nicht nach einer Person, von der die Stimme ausging. Sie wusste, dass sie es nicht selbst war, die da sprach, aber es war auch kein anderer. Sie konnte diese Stimme am Klang identifizieren. Und sie konnte die Worte genau verstehen, wenn die Stimme deutlich sprach; später sprach die Stimme schon mal absichtlich undeutlich, und dann konnte Barbara natürlich nicht verstehen, was sie sagte.
Die Stimmen drücken Gedanken aus, mit denen sich Barbara nicht identifizieren, die sie aber gleichwohl nicht abweisen kann.
Barbara kam noch am selben Tag in die Klinik. Sie wusste, was die Psychiatrie bedeutete, und sie kannte auch den Zustand, in den sie nun geraten war. So sträubte sie sich nicht. Sie bekam Medikamente, unter denen die Stimmen zunächst einmal verschwanden.
Die Ärzte sagten den Eltern, dass Barbara an einer schizophrenen Psychose leide. Eine psychische Krankheit habe man ja früher schon angenommen, aber nun sei es bewiesen, obwohl es nicht die Regel sei, erst Borderline, dann Schizophrenie. Die Schizophrenie sei durch Erbfaktoren bedingt, jedenfalls nehmen das die meisten Ärzte an.
Was aber keineswegs bewiesen ist.
Diese Entwicklung, so tragisch einerseits, war doch auch eine Entlastung für die Familie. Es war nun widerlegt, dass die Symptome Barbaras Blessuren waren, die sie auf dem Schlachtfeld der familiären Auseinandersetzungen erlitten hatte. Barbara hatte richtige Symptome, von denen man wusste, dass sie Ausdruck einer Krankheit waren.
An eine gute Entwicklung von Barbara hatte im übrigen keiner mehr geglaubt, Barbara selbst am wenigsten. Jetzt hörte sie Stimmen, sie war apathisch wegen der Medikamente, sie vermied konsequent jeden sozialen Kontakt. Aber dafür gab es kein Weglaufen mehr, kaum noch Essensregeln, keine Selbstmorddrohungen, keine Selbstverletzungen. Man brauchte nicht mehr darüber nachzudenken, was sie mit ihren Symptomen gemeint haben könnte. Man brauchte keine Schuldgefühle mehr zu haben, durch eigene Fehler die Merkwürdigkeiten von Barbara verursacht zu haben. Es war auch klar, dass Barbara lange Zeit in der Klinik bleiben würde.
Barbara wurde schließlich entlassen und nahm seitdem Medikamente. Die Psychose, bzw. die Folgen verließen sie nicht mehr. Ihr Leben verlief nun in großer Eintönigkeit. Nur gelegentlich gab es neue Aufregung, wenn die Psychose Barbara dazu trieb, Dinge zu tun, die wirklich nicht tolerabel waren. Aber die Aufregung wurde mit der Zeit geringer. Schließlich ging Barbara öfter allein, man wusste oft nicht einmal genau warum, in die Klinik. Das psychiatrische Krankenhaus war für Barbara ein Ort, an den sie sich wenden konnte, wenn sie es mit sich nicht mehr aushielt.
So vergingen die nächsten Jahre. Barbara war inzwischen Anfang dreißig. Der Vater arbeitete noch bei der Firma, die Mutter versorgte das Haus, ihren Mann und Barbara. Cornelia war schon ausgezogen, hatte ihr Studium beendet und stand kurz vor ihrer Heirat. Sie hatte einen netten Freund. Die Hochzeit war ein Ereignis, dem alle mit Freude entgegen sahen. Aber Barbaras Gesundheitszustand verschlechterte sich, und die Sache lief nach einem immer gleichen Schema ab. Barbara wurde unruhiger und schlief schlecht. Offensichtlich war sie wieder viel mit ihren Stimmen beschäftigt. Die Medikamente wurden von dem behandelnden Psychiater erhöht, aber keiner war sicher, ob Barbara sie auch wirklich nahm. Schließlich eskalierte die Situation. Barbara rannte weg, kam mitten in der Nacht wieder, redete wirres Zeug und war aggressiv. Als die Mutter sich daran machte, ihr völlig verdrecktes Zimmer zu putzen, versuchte Barbara sie mit Gewalt daran zu hindern. Sie musste wieder in die Klinik. Bei der Hochzeit wurde sie von der Klinik für einige Stunden beurlaubt.
Es war die alte Eifersucht auf die Schwester. Aber das sah keiner so. Barbara war krank, und das genügte als Erklärung.
Später bezog sie eine eigene kleine Wohnung. Aber auch das bedeutete nicht viel. Sie lebte wie früher in enger Anbindung an die Familie. Die Mutter kam anfangs fast täglich, später seltener, aber niemals weniger als ein Mal die Woche, um nach dem Rechten zu schauen.
Im Leben der Familie war Barbara ein ruhender Pol. Um sie herum nahmen die Dinge ihren Lauf. Cornelia hatte geheiratet, bekam zwei Kinder und ließ sich wieder scheiden. Der Vater übernahm in der Firma eine andere Aufgabe. Er war kurzfristig sehr krank. Die politischen Verhältnisse der Stadt und der Welt veränderten sich. Die Menschen beschäftigten sich mit der Frage, welchen Lauf die Ereignisse nehmen würden, und versuchten, aus der Vergangenheit Anhaltspunkte für die Zukunft zu gewinnen, Barbara nicht. Sie war mit ihren inneren Prozessen beschäftigt, mit Gefühlen der Bedrohung oder auch Beruhigung, mit Stimmen, die ihr sagten, wie man denken konnte. Es waren männliche und weibliche Stimmen. Manche waren wie alte Bekannte, manche waren unbekannt. Manchmal hörte sie die Stimmen streiten: So ein Ignorant! Hat keine Ahnung, interessiert sich für nichts, aber will mal wieder eine Rede halten.
Kartoffel muss man dünsten, und zwar so, dass sie nicht zerfallen.
Scher dich zum Teufel! Lass uns in Ruhe! Wir wollen friedlich unser Kartoffelgemüse essen.
Es gab Stimmen, die Barbara gut zuredeten: Sei nicht traurig kleine Feine. Bist doch eine Liebe. Wir haben dich lieb.
Aber öfter musste sie üble Beschimpfungen hinnehmen: Dreckige Sau! Nichts kannst du auf die zwei Beine stellen. Eine Null, eine Supernull bist du. Nichts als Menschenarbeit hat man mit dir. Schäm dich!
Oder auch: Lass ihn dir von hinten reinschieben, hier, sofort. Hosen runter, halt das Loch offen in Fahrtrichtung, dalli, dalli. Hosen runter! Arsch vor! Zwei drei. Zwei drei.
So unsinnig diese Halluzinationen auch erscheinen, es sind sinnvolle Mittelungen. Hier sind es Erinnerungen an den Streit der Eltern, an deren wechselseitiger Herabsetzung. Aber es sind auch verborgene Sichtweisen, wie sie Barbara hatte. Die obszönen Reden sind Phantasien Barbaras, wofür sie sich verurteilt. Darum die vulgäre Sprache.
Manchmal war auch tiefe Stille in ihr. Stundenlang, tagelang lag sie dann auf ihrem Bett, tat nichts und dachte nichts und fühlte nichts. Sie hatte weder Hunger noch Durst. Auf die Toilette ging sie erst, wenn der Druck zu groß wurde. Das Waschen und das Zähneputzen, das An- und Ausziehen, war dann schon viel an Veränderung.
Diese Apathie war ein Zustand, den Barbara ziemlich verlässlich mit einer hohen Medikamentendosis erreichen konnte. Dann hatte sie das Gefühl, dass alles Leben in ihr, jedes Gefühl von Lust und Trauer, Wut oder Überdruss, Angst oder Zufriedenheit ausradiert wurde. Versuchte sie, etwas Leben zuzulassen und ließ die Medikamente weg oder nahm weniger davon, kamen diese Gefühle zurück und es tauchten die Stimmen oder Wahngedanken wieder auf. Aber auch Stimmen und Wahn waren Leben. Dann war das Leben wieder zu bedrohlich und sie flüchtete sich in die stille Welt der Medikamente, wo alles eingefroren war.
Das ist die Wirkung der Medikamente. Barbara bekam wegen der Diagnose Schizophrenie sogenannte Neuroleptika. Sie dämpfen die Gefühle. Mehr zu den Neuroleptika im dritten Teil.
Noch eines konnte sie durch die Medikamente regeln. Nach dem Aufbrechen der Psychose wurde sie in der Gegenwart anderer Menschen ständig von dem Gefühl beherrscht, dass sie mit ihnen ununterscheidbar verbunden war. Sie fühlte, dass Gedanken, Probleme, Gefühle in sie eindrangen, als wären es ihre. Das passierte besonders, wenn sie mit vielen Menschen auf engem Raum zusammen war, z. B. im Bus.
Ein junger Mann sprach mit einer Frau neben sich: … gestern … habe ich gesagt … man muss ja nicht arbeiten … immer wieder … der Chef hat sie …
Sie konnte nicht anders, als angestrengt hinhören, das Gehörte irgendwie ergänzen und denken, dass sie gemeint war. Sie dachte: Der Chef hat über mich gesprochen, bestimmt ganz schlecht. Er weiß von mir. Sie haben mich gestern beobachtet. Ja, gestern war es gewesen. Was sage ich zu meiner Verteidigung? Die warten jetzt auf eine Antwort. Ihr Chef wird sie fragen.
So absurd diese Gedanken Barbara auch erschienen, sie konnte sich nicht dagegen wehren.
Es fehlte eine Grenze zwischen ihrem Ich und dem Ich der anderen.
Sie war nur das, was andere in sie hinein taten. Es war ein unerträgliches Gefühl des Ausgeliefertseins, der Nichtigkeit. Darum mied sie es, mit Menschen überhaupt in Kontakt zu kommen. Nahm sie die von den Psychiatern verschriebenen Medikamente, dann fühlte sie all das viel weniger oder gar nicht.
Manchmal aber halfen ihr die Medikamente aus unerklärlichen Gründen nicht. Wenn sie dann versuchte, die inneren namenlosen Gestalten, Stimmen, fixen Ideen und die Angst mit den Medikamenten wegzuscheuchen und in die große Friedhofsruhe einzutauchen, kam nicht die Ruhe über sie, sondern eine unerträgliche Unruhe. Sie musste dann rennen, wie von Furien gejagt, und wusste nicht warum und wohin. In diesen Fällen half es nur, wenn sie für eine Zeit den Stimmen und dem Wahn die Herrschaft in ihrer Seele überließ. Aber das war nicht häufig so und wurde mit der Zeit immer seltener.
Die Phasen der Unruhe veränderten nichts in ihrem Leben. Barbara war die Konstante, auf die sich alle Veränderung um sie herum bezog. Sie stand, während alle um sie herum weiter gingen. Man konnte sagen, dass sie die Strecke markierte, die die Welt um sie herum in der Zeit zurück legte. Sie wachte am Ausgangspunkt aller Bewegung.


Zum Kapitel 5: Eine kurze Blüte