3. Autonomie

Als sie noch nicht so tief in ihren Schwierigkeiten steckte, machte Barbara einige Male den Versuch, sich von ihrem Elternhaus abzusetzen. So hatte sie eines Tages die Idee, über Ostern zur Familie ihrer Tante zu fahren. Tante Renate wohnte mit ihrer Familie in der Nachbarstadt.
Natürlich, wenn du willst, sagte die Mutter.
Es waren noch viele Wochen bis Ostern.
Hast du schon mit Tante Renate gesprochen? Nein? Dann tu es bald, sonst nehmen sie sich etwas vor.
Am nächsten Tag meinte die Mutter:
Ich habe mit Tante Renate gesprochen. Sie findet es eine gute Idee, wenn du mal kommen würdest. Ich hab ihr auch erzählt, dass wir Ostern in der Familie feiern wollen. Wir können es uns zu Hause gemütlich machen. Papa hat einige Tage frei.
Ich dachte, gerade an Ostern könnte ich fahren, wandte Barbara ein.
Kannst du auch. Wenn du meinst. Tante Renate sagte jedenfalls, du könntest auch ein anderes Mal kommen. Ich fände es einfach schön, wenn wir Ostern zusammen sind, die ganze Familie.
Barbara hat nicht angerufen, weder für Ostern noch für später einen Besuchstermin vereinbart. Als es dann Ostern gar nicht gemütlich wurde, Cornelia dringende Termine vorschob, Barbara gegen jeden Vorschlag etwas einzuwenden hatte, meinte die Mutter beleidigt:
Wir hatten vereinbart, gemeinsam etwas zu machen. Ich habe mir solche Mühe gegeben, die Ostertage für alle angenehm zu gestalten. Und zu Barbara sagte sie:
Wenn du jetzt keine Lust hast, hättest du ja auch wegfahren können.
Die Mutter hat Angst, ohne Barbara zu sein. Andererseits wünscht sie ihrer Tochter, dass sie diesen Ausflug macht. Ihr Manöver, mit diesen beiden gegensätzlichen Regungen klar zu kommen, ist, dass sie versucht, alle Angelegenheiten von Barbara zu kontrollieren.
Es ist schlechtes Wetter, meinte der Vater.
Diesen Kommentar hättest du dir sparen können. Kein Wunder, dass die Kinder nicht wollen, erregte sich die Mutter. Schließlich machte die Familie, jeder schlecht gelaunt, den von der Mutter geplanten Osterspaziergang. Nur Cornelia schaffte es, zu Hause zu bleiben.
Mit fünfzehn hatte Barbara einen ersten Verehrer. Es war ein Junge aus ihrer Klasse, ein Jahr älter. Er lud sie zu einem Kinoabend ein. Um 20 Uhr begann der Film und gegen 22 Uhr würde er zu Ende sein. Die Mutter hatte nichts dagegen. Denis, so hieß der junge Mann, verabredete sich mit Barbara vor dem Kino.
Denis war ein blonder Junge, über den man nicht viel sagen konnte. Ein Draufgänger war er nicht. Er  fand den Film nicht besonders interessant und er war mehr damit beschäftigt, was Barbara von ihm erwartete. Was macht man mit ”seinem Mädchen” im Kino? Einer seine Freunde hatte damit geprahlt, dass er dem Mädchen an den Busen gegangen war.
Soll ich deine Jacke nehmen? fragte er.
Nein, antwortete sie
Hier, sagte er und hielt er ihr die Popcorntüte hin. Barbara nahm sich Popcorn.
Barbara  sah gerne Liebesfilme, in denen Menschen sich küssten und liebten. Aber als sie die Hand von Denis auf ihrem Knie spürte, kam ihr nicht die Idee, dass das etwas ähnliches sein sollte wie im Film. Barbara konnte mit dem, was sich in ihr rührte, nichts anfangen.
Nach dem Film gingen sie wortlos nach Hause, und kurz vor der Verabschiedung versuchte Denis ihr schließlich – etwas phantasielos –einen Kuss auf den Mund zu geben. Es gelang halbwegs, weil Barbara sich nicht wehrte. Aber sie erwiderte den Kuss auch nicht. Denis wusste nicht, was er davon halten sollte. War es eine Eroberung?
Zu Hause fragte Cornelia:
Wie war‘s? Findest du ihn nett?
Ja, antwortete Barbara ebenso ehrlich wie phantasielos. Aber sie konnte nicht sagen, ob sie die körperliche Nähe zu Denis angenehm fand. Wenn sie versuchte, sich das klar zu machen und eine Antwort zu geben, redeten ihr ständig Mutter und Vater dazwischen.
Mutter: Unanständig!
Vater: Nein, Denis ist cool!
Mutter: Frauen sind kostbare Geschöpfe. Sie müssen beschützt werden.
Vater: Haha, dass ich nicht lache! Frauen genießen auch.
Mutter: Grobian!
Vater: Scheiße!
Es waren noch keine wirklichen Stimmen, es waren mehr unabweisbare Gedanken. Diese Gedanken-Stimmen redeten für sie. So kam sie nicht dazu, sich eine Meinung zu bilden, ja nicht einmal, sich eines eigenen Gefühls bewusst zu werden.
Barbara hat nicht nur eine altersgerechte Scheu vor der Sexualität, ihr Problem damit geht noch weiter. Die Sexualität verlangt innere Unabhängigkeit, also Abgrenzung von den Eltern. Aber wenn Barbara sich innerlich unabhängig machen will, wird ihr Selbst instabil. Sie kann die Sexualität nicht mit ihren seelischen Strukturen in Einklang bringen. Das äußert sich hier noch darin, dass dazu sehr widersprüchliche Gedanken auftauchen, die sie nicht zusammen bringen kann. Ist die intime Freundschaft mit einem Jungen gut oder ist sie nicht gut? Barbara schreibt diesen Widerspruch allerdings den Eltern zu, so kann sie ihn besser ertragen. Es erscheint ihr nun so, dass nicht sie  gespalten ist, sondern die Eltern können sich nicht einigen. Später, als sie psychotisch wird, nimmt das dramatische Formen an. 
Barbara ging am nächsten Tag in die Schule, als sei nichts geschehen. Die unsichere Haltung von Denis, der ihre Nähe suchte und von ihr Zeichen der Intimität erwartete, verstand sie nicht. Nach einer Woche sah sie Denis, eng umschlungen mit einer anderen. Dieses Bild, wie das Mädchen die Arme um Denis schlang, löste etwas in ihr aus. Eigentlich hätte sie weinen oder schreien müssen. Aber bevor diese Gefühle von Neid und Eifersucht sie hätten quälen können, waren sie schon verdrängt. Ihr Mund wurde noch etwas schmaler als sonst, und sie begann wenig später mit ihren Diätplänen. Mit einem Jungen ging sie viele Jahre nicht mehr aus.
Es lohnt sich die Sache genauer zu betrachten. Barbara hat ein altersgerechtes Interesse an Jungen. Sie lässt sich gerne einladen. Aber als Denis Annährungsversuche macht, bekommt sie Angst. Den Grund dazu habe ich eben erläutert. Sie verdrängt das Interesse und tut so, als wüsste sie nicht, worum es geht. Das Problem ist aber, dass damit das Interesse nicht beseitigt ist, es bleibt unbewusst. Als Barbara nun sieht, dass Denis mit einer anderen macht, wozu sie nicht in der Lage ist, entstehen Enttäuschung und Aggression. Da aber alles unbewusst abläuft, kann sich die Enttäuschung und Aggression nicht direkt bemerkbar machen, sie brauchen ein Ventil.
Dieses Ventil fand sie in den Diätplänen. Barbara wählt damit eine Lösung, die eine Rückkehr zu kindlichen Verhaltensweisen darstellt. Anstatt sich mit der Sexualität zu beschäftigen, wählt Barbara das Essen. Das ist wie die Sexualität ein Triebbedürfnis. Damit kehrt sie auch zu dem Konflikt zurück, aus dem alles entstanden ist, nämlich die Beziehungsprobleme mit der Mutter.
Möglicherweise entstand zunächst ein unstillbares Verlangen zu essen, das heißt, sich bei der Mutter die Triebbefriedigung zu holen (Essen ist immer mit der Mutter verbunden), die sie bei Denis nicht bekommen konnte. Weil aber die Aggression gegen die Mutter zu stark war, führte das zur Verweigerung des Essens, also zu einer Anorexie. Die Diätpläne und die Anorexie sind also Versuche, die Triebhaftigkeit, d. h. hier die Sexualität und die Lust am Essen, aber auch die Enttäuschung und Wut wegen Denis’ Verhalten, irgendwie zu bewältigen.
Sie hatte sich in den Garten gesetzt, zusammengekauert, noch leicht verschlafen. Die Sonne schien und es war warm. Sie hatte nicht gefrühstückt, nippte an einem Glas Wasser. Barbara hatte das Gefühl, dass sie weg musste. Irgendwohin. Es war mehr ein dumpfes Gefühl als ein Gedanke. Frei sein. Andererseits hatte sie auch Angst davor. Sie hätte nicht  gewusste, wohin sie gehen sollte, was sie dann tun sollte, womit sie sich beschäftigen sollte, ganz allein. So saß sie in der Sonne und ließ es auf sich beruhen.
Hinter dem großen Terrassenfenster sah sie ihren Vater. Er stand dort und lächelte ihr zu. Sie lächelte zurück. Der Vater war im Morgenmantel, noch unrasiert. Es war Sonntag. Wie ermuntert durch das Lächeln seiner Tochter, öffnete er die Terrassentür, trat hinaus und ging die paar Schritte auf Barbara zu. Der Vater sah mehr ihre Gestalt als ihre Reaktion. Barbara hatte große, tiefliegende Augen. Ihr Mund war schmal, wohl zu schmal. Wie sie da so in sich versunken saß, schien sie mit ihrer Blässe und den langen Haaren wie durchsichtig.
Der Vater schaute auf sie herab. Sein Gesicht drückte Zufriedenheit aus, ein bisschen bewunderndes Erstaunen über das Wesen, das ihm mit einem Ausdruck des Erkennens so nahe kam. Er empfand einen vagen Triumph. Seine Frau war nicht anwesend, niemand störte diesen Anflug von Nähe zwischen seiner Tochter und ihm.
Es ist schön in der Sonne, sagte Barbara.
Er schaute sie an, lächelte.
Sie kann doch ganz normal sein, wenn sie mit mir redet. Das sollte ihre Mutter zur Kenntnis nehmen.
Als sie ihn so ansah, hätte sie ihm gerne etwas von ihren Gedanken erzählt, dass es sie wegzog, dass sie zu Hause so unglücklich war. Aber dann, in seinen Schritten, in seinem Gesicht war so wenig Neugier auf sie. Es war ein verhaltenes Lächeln auf seinem Gesicht gewesen, aber doch nur, weil er mit sich zufrieden war. Barbara spürte das alles, dass das Lächeln gar nicht ihr galt, und so war die flüchtige Absicht, ihre Gedanken auszusprechen, schon wieder erstorben. Sie sank in sich zusammen. Der Vater bemerkte die Veränderung und war enttäuscht.
Man kann draußen sitzen, sagte er. Aber Barbara gab keine Antwort. So drehte sich der Vater um, holte sich einen Stuhl und die Wochenendausgabe der Zeitung und las. Es war fast eine Stunde vergangen, als die Mutter zum Frühstück rief.
Wenn Barbara sich von der Mutter weg und dem Vater zuwendet, dann lernt sie, ohne die Bindung an die Mutter auszukommen (auch die Mutter übt die Trennung). Das funktioniert aber nur dann, wenn der Vater die innere Bindung seiner Tochter an die Mutter (und die Mutter das Interesse des Kindes am Vater) respektiert.
Bei den Reins hat das im Hinblick auf Barbara nicht funktioniert. Der Vater ist nicht wirklich an Barbara interessiert. Er will ein guter Vater sein, aber nicht, damit es der Tochter gut geht, sondern damit er sich selbst gut fühlen kann. Er ist sich aber dessen nicht bewusst.
Das erste Mal war es an einem Sonntag. Barbara zog sich an, griff nach ihrem Geld, fuhr mit dem Bus zum Bahnhof, mit dem Zug in die nächste Großstadt und dort in eine Jugendherberge. Sie benachrichtigte niemanden. Es war ein euphorisches Gefühl: endlich frei, endlich ohne ständige Rücksicht auf irgend jemanden, ohne Verpflichtung. Die Passanten auf der Straße schauten sie herausfordernd an. Sie ging entschlossen durch die Straßen, wenn auch ohne Ziel, geschäftig, wenn auch ohne Aufgabe. Natürlich dachte sie daran, dass man sie vermissen würde. Man würde sich Sorgen machen. Aber dieser Gedanke war von einer grimmigen Genugtuung begleitet.
Der erste Ausflug in die Freiheit dauerte nicht lange. Noch in der Nacht rief sie kleinlaut die Mutter an, die sie sofort abholte.
Barbara wiederholte dieses Ausreißen viele Male. Immer ging es ihr um diesen Kick, ein freier und eigener Mensch zu sein, aus den Fesseln der Beziehungen gelöst. Es waren Stunden, in denen Barbara einen Zustand erreichte, der anderen Menschen selbstverständlich ist. Sie war erwachsen und frei. Aber Barbara konnte sich diese Freiheit nur stehlen.
Die Familie sah in jedem dieser ”Ausflüge” eine Drohung: Zu Euch komme ich nicht zurück. Beim ersten Mal begriffen die Eltern erst, was passiert war, als Barbara anrief. Später entstand die Befürchtung, dass Barbara weggegangen war, um sich umzubringen. Das war jedoch nicht Barbaras Absicht. Als ihre Krankheit schon weit fortgeschritten war, dachte sie zwar an Selbstmord. Die Gewissheit, den Tod wählen zu können, war Freiheit. Aber das hatte mit den Ausflügen nichts zu tun; denn wenn sie ausriss, hatte sie die Freiheit schon gewählt und auch realisiert. Wozu dann noch sich umbringen?
Die Familie konnte die Lust Barbaras an ihren Ausflügen nicht nachempfinden. Es lohnt sich zu fragen, warum nicht? Warum erzeugte die junge Frau bei ihrer Familie die Phantasie, dass sie wegging, um zu sterben? Nichts veranschaulicht die tragische Beziehung zwischen Barbara und ihrer Familie so sehr wie dieser Sachverhalt.
Die anfängliche Euphorie nach dem Ausreißen wich meistens schnell einer tiefen Depression. Barbara lag dort, wo sie sich einquartiert hatte, auf dem Bett, aß und trank kaum etwas und hatte das sichere Gefühl, dass ihre Mutter hinter ihr stand. War es eine Halluzination? War es nur ein Gefühl? Barbara sprach mit dieser Mutter nicht. Sie lag schweigend auf ihrem Bett, dumpf und in sich verschlossen. Die Mutter stand im Raum, schweigend, drohend, böse. Stunde um Stunde verbrachte sie so. Nachts schlief sie unruhig, traumlos. Sie hatte keine Gewissensbisse, kein Gefühl der Schuld. Sie führte auch keinen inneren Monolog mit der Mutter. Sie fragte sich auch nicht, ob sie wieder zurück kehren sollte. Sie lebte dumpf mit gar keinen Gedanken.
Die seelische Verfassung von Barbara war schon so, dass sie gar nicht alleine leben konnte. Sie wurde depressiv.
So lebte Barbara ohne Umgang mit Menschen einige Tage, manchmal sogar Wochen. Dann hatte die Mutter sie gefunden und holte sie zurück nach Hause. Meist fiel kein böses Wort zwischen den beiden.
Nur einmal dauerte ein Ausflug etwas länger. Barbara hatte reichlich Geld mitgenommen und brachte es fertig, sich in einer Wohngemeinschaft einzumieten. Diesmal brachte auch der Spürsinn der Mutter nichts. Sie blieb verschollen. Jetzt hatte sie sich bestimmt umgebracht. Bis eines Tages ein Brief kam, nicht an die Eltern, sondern an den mit der Familie befreundeten Anwalt, an Robert,  adressiert.
Liebe Mama, war da zu lesen, es geht mir gut. Sei mir nicht böse, dass ich Euch ohne Nachricht gelassen habe. Ihr habt Euch immer um mich gekümmert. Es tut mir darum leid, Euch verletzt zu haben. Jetzt bitte ich euch, mir Geld zu schicken, damit ich mir etwas zu essen kaufen kann.
In Liebe Eure Barbara.
Robert wandte sich an Frau Rein, die sofort nach der Adresse von Barbara fragte. Aber er machte geltend, dass Barbara nicht an ihn geschrieben hätte, wenn sie ihre Adresse hätte preisgeben wollen. Die Mutter hielt nichts von Schweigepflicht, aber was sollte sie machen? Verärgert gab sie Robert das Geld und der fuhr zu Barbara, um es zu überbringen.
Er traf Barbara in der Wohnung an. Das Zimmer war klein und dunkel. Es gab keine Möbel, nur eine Matratze mit Bettzeug, daneben eine Zeitung und eine Flasche Mineralwasser. An der Seite standen ordentlich aufgereiht einige Plastiktüten, deren Inhalt Robert verborgen blieb. An Barbara selbst fiel ihm nichts Besonderes auf. Sie wirkte gepflegt, obwohl sie keine Kleider mitgenommen hatte.
Barbara schien sich zu freuen. Nachdem Robert erklärt hatte, was seine Mission war, bemerkte er:
Hast du dich in der Stadt etwas umgesehen? Nette Menschen kennen gelernt? 
Nein, ich gehe nicht nach draußen, antwortete Barbara.
Deine Mutter möchte wissen, wie du hier lebst, und vor allem möchte sie deine Adresse haben. Ich will aber nicht ohne dein Einverständnis sagen, wo du bist.
Sagen Sie meiner Mutter nicht, wo ich wohne, bat Barbara.
Sie wird mir böse sein. Kann ich aushalten. Aber ich frage mich, ob dir damit gedient ist. Wie soll es weitergehen?
Ich weiß nicht, sagte Barbara und schwieg.
Komm, wir gehen Essen, schlug Robert vor. Barbara führte ihn in ein vegetarisches Restaurant.
Warum bist du denn weggelaufen? meinte Robert beim Essen. Barbara aß weiter ohne aufzusehen.
Gab es Schwierigkeiten?
Barbara sagte nichts.
Ich bin es gewöhnt, den Mund zu halten. Als Anwalt bin ich doch zu Verschwiegenheit verpflichtet.
Barbara schwieg weiter.
War es denn nicht möglich einfach auszuziehen, mit Zustimmung der Eltern?
Nein, entgegnete Barbara. Ich weiß nicht.
Was soll ich deiner Mutter sagen?
Dass es mir gut geht.
Robert war genervt. Warum bekam er denn keine Antwort, mit der er etwas anfangen konnte? Diese junge Frau machte ihn völlig hilflos. Das ganze hatte er sich anders vorgestellt und seine Neugier auf diese merkwürdige junge Frau war zunächst einmal verschwunden. Er gab ihr das Geld und verabschiedete sich. Auf dem Rückweg rief er seine Frau an, plauderte mit ihr, nur um die Gedanken an Barbara los zu werden.
Barbara hatte Robert keine Antwort auf seine Fragen gegeben, weil sie keine hatte. Sie war, einer Eingebung folgend, weggelaufen, aber es war kein konkreter Plan gewesen, der sie aus dem Haus getrieben hatte. Auch das Zimmer hatte sie zufällig gefunden. Es ging ihr nicht um eine irgendwie akzeptable Zukunft. Sie wollte Freiheit. Aber sie hatte sich nicht einmal bewusst machen können, dass sie Freiheit von den Eltern wollte. Darum konnte sie auch nichts mit der Freiheit anfangen.
Den Bericht über den Zustand ihrer Tochter nahm Frau Rein ohne Kommentar, aber reserviert zur Kenntnis. Als Robert sich verabschiedet hatte, wurde die Mutter von unbändigem Zorn gepackt. Sie ging in Barbaras Zimmer, riss die Bilder von den Wänden, zog die Schubladen heraus und warf alles auf den Boden. Sie tobte und schrie. Immer wieder trampelte sie auf den Dingen herum. Erst nach Stunden beruhigte sie sich.
Wenig Tage später rief Barbara an und bat darum, abgeholt zu werden. Die Mutter tat es ohne Kommentar. In Barbaras Zimmer fehlte zwar einiges, doch war es wieder aufgeräumt.
Die Lebensäußerungen von Barbara wurden mehr und mehr von ihren Speisevorschriften und ihren Ängsten bestimmt. Doch hat sie nicht ganz ohne Widerstand die Waffen gestreckt. Zu einer Zeit, als die Krankheit noch nicht so fortgeschritten war, machte sie den Versuch einer Therapie. Der Entschluss war ganz ihr eigener gewesen. Der Mutter teilte sie ihre Absicht mit und die hatte nichts dagegen.
Name und Adresse des Therapeuten suchte sich Barbara aus dem Telefonbuch. Es war ein freundlicher, noch ziemlich junger Psychologe. Er ließ sich das Anliegen und die Lebensgeschichte erzählen. Dann versuchte er mit ihr ein Thema zu bestimmen, an dem sie arbeiten könnten. Barbara schlug ihre Essprobleme und ihre Ängste vor.
In endlosen Wiederholungen erzählte sie dann doch von der Mutter.
Meine Mutter meint, dass ich studieren soll.
Dann hätte mein Herumgammeln auch ein Ende.
Meine Mutter hat sich erkundigt, was ich mit meiner Abiturnote studieren kann.
Ich will ja zur Uni gehen, aber ich schaffe es nicht.
Vielleicht versuche ich es nächste Woche. Ich könnte mich ja einfach in den Hörsaal setzen und schon mal zuhören.
Der Psychologe nahm die Sache zunächst einmal so, wie sie ihm vorgetragen wurde, folgte der Plausibilität der Argumente und konfrontierte Barbara mit der Frage:
Warum tun Sie das, was Ihre Mutter will? worauf er aber nie eine Antwort bekam.
Selbst noch jung, ergriff er innerlich schnell Partei für die junge Frau und versuchte, ihr die Bedenken zu nehmen, sich von der Mutter zu distanzieren.
Gehen Sie am Sonntag doch einfach mal aus, verabreden Sie sich mit einer Freundin und bleiben sie länger weg. Sie sind doch erwachsen. Reden Sie mit ihr. Erklären Sie ihr, dass sie als erwachsener Mensch Freiheiten brauchen.
Was ihn hätte stutzig machen sollen, war die Tatsache, dass Barbara nicht von den eigenen, also den inneren Schwierigkeiten, sich von der Mutter zu lösen, sprach, sondern immer wieder erzählte, was die Mutter sagte oder tat. Das verstand er so, dass die Mutter Barbaras schwachen Versuche, sich selbständig zu machen, offen oder weniger offen zunichte machte. Das war zwar richtig, aber es half ihr nicht, weil Barbara gar nicht wirklich von der Mutter sprach, sondern indirekt von sich selbst. Die Mutter hatte Schwierigkeiten, Barbaras Eigenständigkeit zu akzeptieren, aber Barbara selbst verurteilte sich für ihren Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit. 
Ein wirklicher Schritt in Richtung Autonomie wäre vielleicht möglich gewesen, wenn er Barbara hätte verstehen helfen, wie sie sich in der bequemen Abhängigkeit von der Mutter eingerichtet hatte. Sie wollte nur den Widerstand der Mutter sehen, aber nicht ihre eigenen Schwierigkeiten, den Zorn der Mutter zu ertragen. Sie wollte nicht sehen, wie viel Zorn sie ihrerseits auf die Mutter hatte, wenn auch nicht bewusst.
Aber die Sache entwickelte sich anders. Der Psychologe echauffierte sich und Barbara blieb ruhig. Er opponierte gegen die Mutter und Barbara hörte zu. Der junge Psychologe sprach zunächst kritisch, dann abfällig und schließlich denunzierend von ihrer Mutter.
Schließlich ließ er sich dazu verleiten, der Mutter einen Brief zu schreiben.
Barbara braucht mehr Freiheit. Wenn Sie ihr diese Freiheit geben, werden auch die Schwierigkeiten, die Barbara mit sich und der Welt hat, verschwinden können, dann erst macht eine Psychotherapie Sinn, schrieb er.
Die Mutter war verärgert, dass sie an den Schwierigkeiten von Barbara die Schuld tragen sollte. Aber sie antwortete höflich:
Ich kann nicht erkennen, dass ich oder jemand anders aus der Familie daran schuld sein sollte, dass Barbara Probleme hat. Wir hatten gehofft, Sie könnten Barbara helfen, aus ihren Schwierigkeiten heraus zu kommen. Wenn Sie uns sagen, was wir tun können, um die Behandlung zu unterstützen,  werden wir keine Mühen scheuen, das auch zu tun. Das kann ich Ihnen auch im Namen meines Mannes mitteilen. Mit freundlichen Grüßen.
Es gab einen zweiten Briefwechsel, nun gereizt. Die Mutter machte Barbara keine Vorwürfe, fragte auch nicht, was sie dem Therapeuten erzählt habe. Barbara hatte ohnehin immer ziemlich detailliert darüber berichtet, was in den Therapiestunden besprochen worden war. Die offene Parteinahme des Psychologen für Barbara und gegen die Mutter hatte sie freilich verharmlost. Innerhalb kurzer Zeit war die Konstellation nun so, dass sich Barbara und der Psychologe darin einig waren, wie unmöglich die Mutter war, und Barbara und die Mutter sich darin einig waren, wie unmöglich der Psychologe war. Das Ganze ging über ein Jahr und endete dann sang- und klanglos damit, dass Barbara eines Tages einfach nicht mehr hinging. Den Brief des Psychologen, in dem er danach fragte, warum sie nicht weiter zur Therapie komme, beantwortete sie nicht.
Barbara wollte die Therapie, sonst wäre sie nicht so lange dabei geblieben. Auch die Mutter wollte sie. Und der Psychologe natürlich auch. Jeder dachte, Therapie sei, dass die Symptome verschwinden, also die Essstörung usw. Was keiner wahrhaben wollte war, dass diese Symptome für Mutter und Tochter notwendig waren, um das eigene Ich stabil zu halten. Die Symptome hätten nur verschwinden können, wenn sich auch die Beziehung zwischen Barbara und der Mutter, und damit auch der übrigen Familie, verändert hätte.
Nicht lange danach lief Barbara wieder weg. Aber diesmal zog sie Cornelia ins Vertrauen, und sie hatte einen Brief geschrieben, einen Abschiedsbrief.
Vielen Dank für alles. Seid mir nicht böse. Ich liebe Euch alle. Barbara. Der Umschlag war mit ”An Mama” beschriftet . Cornelia nahm ihn zur Kenntnis.
Was willst du machen? fragte sie interessiert.
Ich weiß noch nicht, ich gehe weg.
Mama wird sich Sorgen machen, warf Cornelia ein, selbst nicht sonderlich besorgt. Soll ich was sagen?
Auf keinen Fall! Ich komme nicht wieder, sagte Barbara, als ob das eine mit dem anderen etwas zu tun hätte.
Cornelia ahnte, was Barbara andeuten wollte. Aber sie war zu jung, um den Ernst der Lage wirklich begreifen zu können.
Als dann die Mutter kam, war Barbara schon zwei Stunden weg. Sie las den Brief und schrie auf.
Die Polizei wurde verständigt, der Vater im Büro angerufen. Es vergingen Stunden bangen Wartens. Die Mutter war verzweifelt, rannte raus, kam wieder rein, telefonierte. Schließlich der Anruf, der sich mit ”Polizei” meldete. Man hatte Barbara auf einer Brücke gefunden. Jetzt war sie im örtlichen psychiatrischen Krankenhaus. Die Mutter weinte, umarmte Cornelia. Immer wieder erzählte sie ihr die Geschichte, als ob Cornelia nicht dabei gewesen wäre. Cornelia selbst hörte aufmerksam zu. Dann, als sich die Mutter allmählich beruhigte, ging sie an ihre Arbeit. Sie konzentrierte sich auf das, was sie für die Schule machen sollte, und das gelang ihr auch.
Als das passierte, war Barbara gerade 18 Jahre alt geworden. Sie machte bald darauf das Abitur, aber überlegte nicht, wie es mit ihr weiter gehen sollte. So verging mehr als ein Jahr. Die Mutter wurde unruhig und drängte ihre Tochter, zu studieren.
Irgendwas, meinte sie, Hauptsache, du tust was.
Barbara ging auch ein paar Mal in die Uni, betrat aber nie einen Hörsaal. Gedrängt von seiner Frau, führte schließlich auch der Vater ein ernstes Gespräch mit Barbara, in dem er sie aufforderte, nun endlich eine Entscheidung zu treffen, welche Berufsausbildung sie machen wolle. Aber die Dinge kamen anders.


Zum Kapitel 4: Barbara wird psychotisch