15.1. Das zweite Ende der Geschichte

Dieses „zweite Ende der Geschichte“ beschreibt Roberts Beschäftigung mit Barbara und ihrem Schicksal nach ihrem Tod. Wenn man so will, ist es auch irgendwie verrückt, was er empfindet oder sich denkt. Aber es ist doch ganz anders als das, was wir von der Familie Rein mitbekommen haben. Robert kann sich relativieren, darum hat er auch Humor, und er ist, obwohl ein sehr eigenständiger Mensch, immer auf seine Umwelt bezogen. Es wirkt eben „normal“. Seine Gedanken und Empfindungen ließen sich auch psychologisch deuten, bzw. haben eine Motivation, die Robert meist nicht bewusst ist, aber eine Kommentierung wie bei der Familie Rein, ergäbe hier keinen Sinn. Was  er denkt, tut oder empfindet macht auch ohne Deutung der unbewussten Motive Sinn.
Die Gegenüberstellung von Roberts Erleben mit der Familie Rein soll auch deutlich machen, dass in der Psychose etwas Geheimnisvolles enthalten ist, das keine Deutung oder Erklärung ergründen kann.
Roberts Fragen waren nur zum Teil beantwortet. Die Fragen zur Psychiatrie interessierten ihn auch gar nicht. Nicht einmal der Selbstmord von Barbara war sein Problem. Nicht dass er ihren Tod richtig fand, es war nur so ein Gefühl, dass der Tod zu Barbara nicht zur Unzeit gekommen war. Letztlich blieb es ein Geheimnis. Was auch sonst hätte man tun sollen, als den Tod zu akzeptieren? Warum bringen sich Menschen um? Bestimmt nicht alle aus dem gleichen Grund. Barbara konnte man nicht mehr fragen. Also war sowieso jede Antwort darauf spekulativ. Nein, die Frage, die er sich stellte, war eine ganz andere, nämlich warum er sich überhaupt für Barbara interessiert hatte. Solange sie lebte, hatte er sich das nicht gefragt. Es genügte ihm damals festzustellen, dass sie ihn interessierte. Aber jetzt kam es ihm absurd vor.
Sehr zögernd fand er eine Antwort. Dass er sich um sie gekümmert hatte, war nicht aus einem Impuls moralischer Verpflichtung entstanden. An Barbara hatte ihn etwas ganz anderes fasziniert, nämlich dass ihr Verhalten nicht verständlich war. Ihr Verhalten entbehrte jeder Logik. Robert wusste, bzw. konnte sich denken, dass Barbara eine Menge Schwierigkeiten hatte. Er hatte mitbekommen, dass das Ehepaar Rein enorme Beziehungsprobleme hatte, und er konnte sich ausrechnen, dass dies eine schwere Hypothek für Barbara war. Aber das alles machte es nicht erklärlich, wie Barbara gelebt hatte.
Sein eigenes Leben war klar, nachvollziehbar und für jedermann verständlich. Nicht, dass es an Zufällen, Unwägbarkeiten und Nackenschlägen gefehlt hätte. Robert hatte seinen Vater früh als Kind verloren. Mit dem neuen Partner der Mutter, den sie später, als er schon erwachsen war, heiratete, verstand er sich nicht. Nach dem Studium hatte er in einer Anwaltskanzlei gearbeitet, stellte aber nach einiger Zeit fest, dass er bei einem Anwalt arbeitete, der einen üblen Ruf hatte. Es war damals nicht leicht gewesen, diese Stelle aufzugeben und eine bessere zu finden. Seine erste Ehe war gescheitert. Als er erstmals einigermaßen gut verdiente, versuchte er, Aktiengeschäfte zu machen, verkalkulierte sich und wäre Konkurs gegangen, wenn ihm nicht ein guter Freund durch einen Kredit aus der Patsche geholfen hätte.
Er hatte Glück gehabt. Die Begegnung mit seiner jetzigen Frau war ein großes romantisches Erlebnis gewesen. Die Beziehung zu seinen Kindern war im großen und ganzen gut, wenn ihre Lebensentwürfe auch seinen Wünschen in vielen Punkten nicht entsprachen. Beruflich war er erfolgreich. Er hatte Freunde und war ein geachteter und beliebter Mensch. Die Familie war nicht reich, aber wohlhabend. Robert liebte seinen Beruf, und trotz einiger Schwierigkeiten in der Ehe konnte er aus dem Zusammensein Befriedigung ziehen.
All diese Erfolge und Misserfolge, die zu einem normalen Leben gehören, konnten seinem Leben nicht den Charakter von Normalität nehmen. Leichtsinn, Unwissenheit und auch Beeinflussbarkeit, die bei seinen Missgeschicken  eine ursächliche Rolle gespielt hatten, sind für einen Menschen normal, besonders wenn er jung ist. Robert hat, wenn er in Gefahr geraten war, die Gefahr auch erkennen können und sich auf vernünftige Gegenmaßnahmen besonnen. Manchmal war es dann zu spät gewesen, aber er hatte das ihm Mögliche versucht. Da ihm wirklich großes Unglück erspart geblieben war, hatte ihn nichts aus der Bahn werfen können.
Mit dem Leben von Barbara hatte das alles nichts zu tun. Was sie getan hatte, war schon im Ansatz, in der Intention etwas, was für Robert nicht nachvollziehbar war. Und er war sich sicher, dass er es nicht verstand. Fehlte ihm etwas? Er erklärte es sich so, dass ihm die Fähigkeit fehlte, das Sinnlose zu ertragen. Robert hatte die Idee, dass es für ihn ein innerer Zwang war, vernünftig zu sein.
Dieser Gedanke kam ihm aber andererseits absurd vor, so dass er sich fast dafür schämte.
Sie konnte wahrscheinlich besser mit dem Sinnlosen umgehen”, meinte er einmal in einer Unterhaltung mit seiner Frau.
Glaube ich nicht. Idealisiere die mal nicht! Die war viel zu arm dran. Die hat sich das doch nicht ausgesucht, wandte sie ein.
Stimmt, dachte er. ‚Und doch, um so schlimmer! Sie hatte es sich nicht ausgesucht. Die wusste gar nicht, was Beziehung zu einem anderen Menschen bedeutet.’ Das hatte er erfahren. Ihm fiel die Szene am See mit der jungen Frau ein. In ihrem unfertigen Verstand hat sie es mit dieser Frau versucht, so wie sie es konnte. Robert wurde unheimlich.
Aber mit der Zeit verblassten  die Erinnerungen an die Ereignisse um Barbara. Nur die Idee, dass sein Leben mit dem von Barbara irgendwie verbunden war, beschäftigte ihn weiter. So hatte es doch Dr. Kraus gesagt. Wenn er nur wüsste, wie.
Immer wieder kam er auf dieses Thema zurück, und dann drängte sich ihm die Frage auf, warum er alles das tat, was er den Tag über tat. Erst glaubte er, dass seine Begegnung mit Barbara ihn mit der Frage nach dem Sinn seines Handelns konfrontiert hatte. Dann aber kam er darauf, dass es wahrscheinlich umgekehrt war. Barbaras Existenz war ihm so absurd vorgekommen, dass ihm die Frage nach dem Sinn seines Lebens ganz überflüssig erschien.
Eines Tages, er ging durch die Stadt, fiel ihm auf, wie gedrängt alles war, wie viele Menschen dort geschäftig hin und her liefen. Er selbst hatte es auch eilig. Er musste in sein Büro zurück, wo schon ein Mandant auf ihn wartete, wollte aber vorher noch nach einem neuen Kommentar zu einer Gesetzesnovelle schauen. Die Eile, in der er sich befand, störte ihn. Er sah Menschen, die vorbei eilten.
Unwichtiges! rief er ihnen lautlos zu. Unwichtig! Sie können auch einfach stehen bleiben. Denken Sie nach!
Man muss nicht ins Büro zurück. Im Hinblick auf die Ewigkeit – wie hieß es noch? Sub specie aeternitatis –  war das bedeutungslos. Wen würde in China – da leben eine Milliarde Menschen! – interessieren, wenn er einfach stehen bliebe, kein Buch kaufen würde, der Mandant unverrichteter Dinge nach Hause gehen müsste? Wenn er nie wieder ins Büro ginge! Wen würde es in nur einem Jahr interessieren, wenn er überhaupt nicht mehr ginge!
Er war belustigt und für einen Augenblick befreit von seinem Ziel. Dann sah er eine junge Frau vor sich. Sie hatte eine schöne Figur und trug einen engen Rock, der unten weit ausgestellt war. Robert hatte plötzlich ein Gefühl der Erregung und dachte über die junge Frau nach. Wie wohl ihr Gesicht aussehen würde, ihr Busen, die Augen?
Sie wird jung sein.
Er versuchte, sich von den Menschen zu distanzieren, und merkte, dass er das gar nicht konnte. Da waren so viele Menschen, Ereignisse und Dinge, die ihn immer wieder gefangen nahmen.
Es ging nicht. Er gab es auf. Doch das Problem kehrte wieder. Als er am Abend nach Hause kam, seine Frau begrüßte, schoss es ihm wieder durch den Kopf. Einen Augenblick hielt er inne und dachte:
Weggehen! Alles stehen lassen, jetzt sich umdrehen, auf keinen erstaunten Ausruf reagieren, durch die Haustür gehen, auf die Straße gehen und einfach weiter gehen, immer weiter.
Ist was? fragte seine Frau.
Ich bin ziemlich erschossen, antwortete er. Ich freue mich auf dein Essen und einen ruhigen Abend.
Der Gedanke erlosch, er gab seiner Frau ein Küsschen, legte die Aktentasche ab und ging, um sich etwas lockerer für den Abend anzuziehen. Er erschrak. Noch nie hatte er das Gefühl gehabt, alles aufgeben zu können.  Ein Selbstmord, das wäre das äußerste gewesen. Aber ein Selbstmord, das ist eine Strafe für die Welt. Da ist einem nichts egal, im Gegenteil, alles ist wichtig. Aber einfach nur weggehen? Robert dachte enttäuscht, dass er dem Leben und seinen Zwängen hilflos ausgeliefert sei. Nichts würde ihn davon abhalten können, das zu tun, was er immer schon getan hatte und alle von ihm erwarteten.


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