14. Das erste Ende der Geschichte und eine ernste Unterhaltung

Barbara war nun 35 Jahre alt. Es war schon etwas her, dass sie eine eigene Wohnung bezogen hatte, in der sie auch einige Zeit ziemlich selbständig lebte. Aber sie war gezeichnet von den vielen Symptomen. Sie sah alt aus. Die Augen waren ohne Glanz, die Haut war blass. Das Haar zeigte schon graue Strähnen. Barbara kleidete sich inzwischen manchmal sehr nachlässig. Doch war sie nicht mehr so dürr wie früher, sondern hatte weibliche Rundungen bekommen. Das war eine Auswirkung der Medikamente, die sie nahm. Eine weitere Folge der Medikamente schien zu sein, dass sie Barbaras Apathie verstärkten. Die meiste Zeit lag sie auf ihrem Bett, sah selten fern, noch seltener hörte sie Musik. In den ersten Jahren las sie ab und zu einen Roman. Aber irgendwann hörte auch das auf. Ihre Mutter besuchte sie regelmäßig, der Vater und die Schwester kamen nie in ihre kleine Wohnung. Sie sahen Barbara, wenn sie anlässlich wichtiger Familienereignisse im Haus der Eltern war.
Es war Robert, der den Anstoß für die letzte Episode im Leben Barbaras gab. Inzwischen war er so etwas wie der Familienanwalt der Reins geworden. Die Länge der Bekanntschaft und die Anlässe der Beratung hatten aus dem Umgang eine gewisse Freundschaft werden lassen. Man hatte sich das eine oder andere Mal auch privat beim Abendessen gesehen. Einmal hatte ihn Frau Rein anlässlich einer zwangsweisen Unterbringung ihrer Tochter gebraucht. Die Mutter hielt die weitere Unterbringung nicht mehr für nötig, musste das aber gegen die Ärzte der Klinik durchsetzen.
Robert, der sich mit der Rechtsmaterie der Unterbringung nicht auskannte, half dennoch und sah bei dieser Gelegenheit Barbara nach langer Zeit wieder. Die Ärzte in der Klinik und das ganze Ambiente fand er wenig hilfreich für ein so verstörtes Wesen wie Barbara. Er war auch befremdet und etwas erschrocken über Barbara, wenn er sich das Bild des Mädchens, das er gekannt hatte, in Erinnerung rief. Aber es gelang ihm, mit der Mutter die Entlassung Barbaras durchzusetzen.
Einige Zeit später merkte Robert, dass ihn die Sache nicht los ließ. Es interessierte ihn, was mit Barbara war. Und da er keinen großen Respekt vor den Ärzten der Klinik gewonnen hatte, dachte er daran, einen Mann zu konsultieren, von dessen Fähigkeiten er eine gute Meinung hatte. Robert hatte in seinem Bekanntenkreis einen Psychiater, Dr. Kraus. Er kannte ihn nicht besonders gut, hatte ihn aber auf einer Gesellschaft über verschiedene Dinge sprechen hören. Bei dieser Gelegenheit war seine gute Meinung über Dr. Kraus entstanden. Überdies fand er ihn sympathisch.
Robert sprach Dr. Kraus an und fragte ihn, ob er sich nicht einmal Barbaras annehmen wollte. Dr. Kraus reagierte ebenso positiv wie zurückhaltend. Ja natürlich, er wolle gerne, aber sie müsse schon zu ihm kommen. Robert fragte Frau Rein, die nichts dagegen hatte.
Es war ein schwieriges Unterfangen. Er besuchte Barbara und schlug ihr vor, Dr. Kraus aufzusuchen. Barbara wunderte sich, warum sie gerade zu diesem Psychiater gehen sollte. Schließlich tat ihm Barbara den Gefallen, vielleicht auch, weil die Mutter den Vorschlag unterstützte. Es war dann schwierig herauszubekommen, was das Ergebnis der Besprechung zwischen Barbara und Dr. Kraus gewesen war. Es war ein langes Gespräch gewesen, und das Ergebnis war wohl, dass Barbara so weiter leben sollte wie bisher. Jedenfalls passierte nichts. Robert war enttäuscht.
Aber er gab nicht so schnell auf. Er war unbefangen genug, selbst zu versuchen, was andere nicht tun wollten. Er besuchte Barbara und lud sie zum Essen oder zu einer Veranstaltung ein. Seine Frau bat er, dass sie ihn gelegentlich begleitete. Es sollte keiner auf falsche Gedanken kommen, am wenigsten Barbara selbst. Barbara nahm die Einladungen von Robert meistens an. Sie war eine skurrile Begleiterin. So trug sie immer einen Mantel, egal wie warm es war. In Lokalen pflegte sie ziemlich laut das Essen zu kommentieren. Manchmal lachte sie unmotiviert. Dabei war sie insgesamt sehr schweigsam. Es war kaum möglich, mit ihr ein längeres Gespräch zu führen. Einmal ging er mit ihr am großen See, der am Rande der Stadt lag, spazieren. Es war ein warmer Sommertag, und so waren viele Leute dort. Barbara war einsilbig und  antwortete immer nur mit ”ja” und ”nein”. Darum überließ Robert sich lieber seinen Gedanken. Er wollte den Spaziergang dann doch wenigstens auf seine Weise genießen. Barbara war die ganze Zeit mit sich beschäftigt. Unversehens ging sie auf eine junge Frau zu und sprach sie an. Robert verstand nicht, was sie sagte, da er einige Schritte zurück geblieben war. Die junge Frau reagierte abweisend. Barbara wurde unruhig, sprach auf die Frau ein und lief schreiend weg.
Robert kam sich bei dieser und ähnlichen Aktionen ziemlich komisch vor. Die beiden passten äußerlich auch gar nicht zusammen. Ein gut situierter Herr im Anzug und neben ihm eine jüngere Frau, der man ansah, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Doch war Robert ein Mensch, dem das Ziel, das er sich gesetzt hatte, wichtiger war als das, was die Menschen darüber dachten, und darum war es ihm egal, wie er mit Barbara auf andere Menschen wirkte.
Die Sache zog sich hin, ein Jahr und dann noch eins, ohne dass sich etwas an Barbara und ihren Lebensgewohnheiten verändert hätte. Robert registrierte das resigniert, aber er sprach mit keinem darüber. Er dachte sich schließlich, dass es eben so bleiben würde und dass es auch Sinn machte, Barbara auf diese Weise, nämlich dass er sie ein paar Mal im Jahr zu Unternehmungen einlud, am Leben teilhaben zu lassen. Auf eine gewisse Weise hatte er auch eine Zuneigung zu ihr gefasst.
Eines Tages machte Barbara Probleme mit dem neuen Termin, den Robert mit ihr ausmachen wollte. Sie hätte zu dem Zeitpunkt eine andere Verabredung. Normalerweise rief er an, schlug ihr einen Termin vor und, da Barbara den ganzen Tag nichts zu tun hatte, gab es keine Absagen von ihr. Die Mutter besuchte ihre Tochter fast immer am Freitag, was Robert wusste. Frühere Termine waren auch schon mal geplatzt, wenn Barbara unverhofft in die Klinik ging. Aber das hatte sie nie angekündigt, weil sie natürlich vorher darüber nichts wusste, bzw. wissen konnte. Die Situation war diesmal eine andere. Als Robert sie fünf Wochen später wieder traf, sah Barbara anders aus. Ihr Gesicht war frischer und sie hatte sich die Lippen geschminkt, wenn das auch etwas daneben gegangen war. Robert fragte sie aus. Was er heraus bekam, war, dass sich Barbara mit einem jungen Mann angefreundet hatte, der auch psychisch krank war. Es war nicht zu erfahren, wo sie ihn aufgegabelt hatte, wie oft sie ihn sah und wie nahe sie sich standen
Robert hat nicht weiter nach dem jungen Mann gefragt. Er dachte, dass sich Barbara in diesen Mann, dessen Namen er auch erfuhr, verliebt hatte.
Die Treffen mit Barbara fanden nun noch seltener statt. Einige Male lag fast ein halbes Jahr dazwischen.
Schließlich bekam er auch Barbaras schweren Rückfall mit. Sie erschien eines Tages nicht zum vereinbarten Termin. Das war nicht das erste Mal. Ein Anruf bei ihr machte ihm klar, in welcher Verfassung sie war. Als er erneut versuchte, Barbara anzurufen, konnte er sie nicht erreichen. Von der Mutter erfuhr er, dass sie in der Klinik war. Nach ihrer Entlassung, die erst nach vielen Monaten erfolgte, erfuhr er, dass es Barbara sehr schlecht ging. Er wollte sie wieder anrufen, schob das aber vor sich her. Er sah sie nicht wieder. Eines Tages bekam er die Todesanzeige von der Familie Rein. Von der Mutter, die er zu einem Kondolenzbesuch aufsuchte, erfuhr er die Geschichte.
Barbara ist es die ganzen letzten zweieinhalb Jahre schlecht gegangen. Erst vor einigen Monate hat sie sich erholt. Wir haben alle aufgeatmet. Der Schub war diesmal schlimmer als alles, was wir kannten. Nichts hat geholfen. Sie war monatelang in der Klinik. Man konnte sie überhaupt nicht mehr verstehen. Sie redete nur wirres Zeug. Am Anfang ging es noch. Aber dann ist es in der Klinik immer schlimmer geworden. Ich habe sie ja fast täglich besucht und habe alles genau mitbekommen. Ich bin selbst krank darüber geworden. Dann ist sie auch aggressiv geworden.
Hier brach die Mutter in Tränen aus und konnte lange nicht weiter sprechen. 
Sie hat mich … , aber wieder hinderten die Tränen sie.
Sie hat mich geohrfeigt, ein paar Mal. Sie wurde darum ans Bett gefesselt. Da hat sie mich angespuckt. Die Mutter weinte lange und Robert sagte nichts.
In solchen schweren psychotischen Zuständen stehen die psychischen Funktionen nicht in ihrer reifen Form zur Verfügung, also Denken, Kontrolle der Gefühle, Kontrolle von Handlungsimpulsen etc. Es ist ein Zustand ähnlich wie beim kleinen Kind, das ja alles dieses noch lernen muss. Vielleicht wird es eines Tages gelingen, den Patienten zu helfen, ihre psychischen Fähigkeiten neu und stabiler als vorher wieder aufzubauen.
In der Klinik habe ich mich ja zusammen genommen, wenn ich neben ihrem Bett saß. Aber auf dem Weg nach Hause habe ich immer weinen müssen. Die Pfleger und Schwestern waren nett zu mir. Sie haben versucht, mich zu trösten.
Und dann bekam ich später diesen Brief, von einem Rene Steinmann. Frau Rein ging hinaus und kam nach einer kurzen Weile zurück. Sie reichte Robert ein Papier.
Verrückt. Wir wissen auch nicht, wer dieser Mann ist.
Auch das ist ein (von mir leicht verändertes) Schreiben eines meiner schizophrenen Patienten, der aber anonym bleiben wollte. Der Brief wurde aus einem ähnlichen Anlass geschrieben, wie in der Geschichte. Der Mann verlor sein Kind.
Robert las:
Sehr geehrte Frau Mutter Rein,
meine Freundin ist wohl letztendlich daran zerbrochen, es war der Fall, dass sie geschlagen hat. Für die anderen wars aus meiner Betrachtung viel weniger schlimm.
Ich bins, ders hört und an Sie weiter gibt. Denn wir alle sind geschlagen worden und haben geschlagen.
All die Kinder, die ihre Schrecken leben konnten, loslaufen konnten, weil sie vom Leben wissen, all die die glauben, Geheimnisse teilen, zusammen leben, Einsichten haben und damit arbeiten können, all die sich das Leben erobern konnten, sie sind zu beneiden aus tiefster Seele. Ich liebte sie alle. Ich liebte sie dafür. Es trennte mich etwas vom Leben und den Menschen. Ich war gebrochen, nur zu sehen, keine Sprache, kein Augenblick nur manchmal hörte ein Schmerz auf, den ich sonst nicht wahrnahm. Ich hatte mich in meiner Kindheit selbst verabredet. Die Fortsetzung meines Lebens war nichts mehr wert für mich.
Ich, glauben Sie mir, habe kein Interesse mich als Rene Steinmann zu entwickeln. Warum. Ich kenne den Abort, den Beton, die Verdorbenheit, die verstellten, verstellten messerschneidenden kopfhängenden Realitäten meines bisherigen Lebens, das ich 39 Jahre auf einer treibenden Scholle verbrachte, kein Sinn nur das Wissen einer gottlosen Kranken total kranken Welt, deren Natur ein Bann und Fluch ist. Nur meine Mutter muss es zu genau genommen haben, vielleicht aufgrund ihrer unerfüllten Wünsche ihrer einsamen Ideologie. Das ist schon wieder alles ein Märchen. Das helle unaufhörliche Denken, an dem man letztendlich zu Tode bricht, ist durch einen tiefen vorgeburtlichen Vertrauensverlust in seine nächste Umgebung entstanden. Bin jetzt zu alt ein Schadensfall, der ich bin, den man aus einem „Verbundsystem“ heraushalten wollte.
Es ist ein anderer Tag heute.
Die Frau brauchte wirklich intensive Behandlung, Zuwendung, Arbeit. Wer kann das schon! Vermutet werden kann, dass der Faden der Frau zum Zerreißen gespannt war und in Müdigkeit und Schlaf überging.
Schon in der Schwangerschaft ist vieles im Argen.
Ich denke, eine verbrauchte Seele wird voll eine andere haben wollen.
Ein Baby im Mutterleib kann stark bis völlig gegeißelt sein (werden). „Irrsinn ist programmiert.“ Das Baby hat nur noch die Chance, sich zu wehren mit heftigem Strampeln, Treten. Beide finden das Leid, sind gebrochen und erleben den Bruch zum nächsten. Man könnte hier ansetzen zu sehen und helfend beizustehen.
Ich will nicht zu sehr psychologisieren. Eher was an Krankem erfahren wird, aufzeigen.
Geschichte und Kranksein der Eltern erst mal auf ein Nebengleis gestellt.
Viele Menschen dieser Welt sind von Geburt so defekt und in einer Weise ins Leben gerufen, dass es braucht, dass es zum wirklichen Leben dämmert. Es tritt Verstörung ein und nicht ganz wissen wie und wohin.
Das „Bekloppte“ an dem „Beklopptsein“ der Kinder ist nicht eben dies, sondern das kümmerliche, verdorbene Verhalten der Eltern.
Es ist kaum zu beschreiben und schlimmer. Man sollte denken, dass der schizophrene Himmel, der schizoiden-paranoiden zwanghaft Lebenden den (Un-) Menschen eine Schande ist.
Tatsächlich erscheint es gottlos (ist er gottlos?) Dies ist immer die Folge von seelischen Brüchen, eine Welt ohne Türen, die keinen Zugang fand. Allein in Angst fortgeschickt und sich selbst überlassen.
Diese Anmerkung ist kaum von Wert, denn eine Welt, die keinen Glauben schöpfen kann aus Leben, kann nicht leben.
Es tritt ein anderer Fall ein helles Wachen in seelischer Dunkelheit sowie Schlaf.
Es wird nichts gesagt, nichts bewegt.
Kommen wir wieder zum Liebesleid. Jeder ist in der Lage zu erkennen, was es zu erkennen gibt. Zum Beispiel Verlachen des Ernstes der Kinder. Ich sag nicht, dass Eltern mustergültig sein müssen (kann gar nicht sein).    
Rene Steinmann
Nach einer Weile fuhr Frau Rein mit ihrem Bericht fort:
Die Ärzte haben alles an Medikamenten versucht. Ihre Arme waren ganz zerstochen, so viel Spritzen hat sie bekommen. Zum Schluss haben die Ärzte keine Venen mehr gefunden. Sie wirkte damals wie betäubt, so viel hat sie bekommen. Aber schließlich hatte sie keine Widerstandskraft mehr. Sie wurde ruhiger, immer ruhiger. Jetzt kam eine lange Zeit der Apathie. Für uns, die Familie war das genau so schlimm. Barbara war nicht mehr sie selbst. Sie nässte manchmal auch ein. Die Ärzte haben alles untersucht, sie haben Spezialuntersuchungen des Kopfes gemacht, aber sie haben nichts gefunden.
Endlich, nach langer Zeit ging auch das vorbei. Ich habe immer ein gutes Gespür für Barbara gehabt, besser als irgendeiner der Ärzte. Ich habe sie damals nach Hause genommen. Die Ärzte waren mir dankbar, die waren ja längst mit ihrem Latein am Ende. Die Medikamente habe ich etwas reduziert, ohne einen Arzt zu fragen, und von da ab ging es aufwärts. Ihr Zustand wurde besser. Wir waren ja so glücklich nach dieser langen Leidenszeit.
Sie lebte wieder in ihrer Wohnung, und ich habe sie wie früher nur einmal die Woche besucht und nach dem Rechten geschaut. Die Mutter hielt einen Augenblick inne und sagte dann:
Man muss ja sagen, dass sich die Ärzte und Schwestern in der Klinik viel Mühe gegeben haben. Die hatten auch eine Menge auszuhalten. Ich weiß noch, das war kurz nach der Entlassung, da ist sie mir einmal um den Hals gefallen und hat geweint. Sie hat gesagt, dass sie mir so dankbar für alles ist und dass es ihr so leid tut. Wieder weinte die Mutter und machte eine lange Pause.
Ich habe sie zuletzt am Freitag Nachmittag besucht. Sie war gut gelaunt. Wir haben darüber gesprochen, dass sie ein neues Sofa braucht. Ich hatte in der Zeitung Prospekte von Möbelhäusern gefunden und einige Sachen angekreuzt, die ich gut fand. Die habe ich ihr gezeigt. Wie haben lange darüber gesprochen. Sie war richtig begeistert. Sie hat sich für ein Sofa entschieden, das mir auch gut gefallen hat. Das war ein Sofa zum Liegen und Sitzen und dabei ganz zierlich. Das würde gut in ihre Wohnung passen. Als ich nach Hause ging, hat sie sich ganz lieb von mir verabschiedet. Die Mutter stoppte.
Vielleicht hat sie es schon gewusst. Mir ist es noch nicht aufgefallen. Aber nie hat sie sich so lieb von mir verabschiedet.
Sie ist vom Dach eines Parkhauses gesprungen, sagte die Mutter tonlos und schwieg. Auch Robert schwieg.
Barbara war am Montag, so gegen acht Uhr dreißig, wie die Polizei später rekonstruierte, zu einem nahe gelegenen hohen Parkhaus gegangen und  von der letzten Etage in die Tiefe gesprungen. Sie war nach dem Sprung offensichtlich sofort tot. Der Körper war durch den Aufprall übel zugerichtet. Sie muss mit den Beinen aufgekommen sein; sie waren in den Rumpf hinein gestaucht, so dass sie ganz klein wirkte. Der Hinterkopf war eingedrückt, also war sie nach dem Aufprall nach hinten gekippt und mit dem Kopf aufgeschlagen. Das Gesicht war unversehrt.
Es war eine wenig begangene Straße. Niemand hat den Sprung beobachtet. Der Inhaber eines nahe gelegenen Kiosks, der schon geöffnet hatte, hörte das dumpfe Geräusch des Aufpralls und sah den Körper auf der Straße liegen. Er benachrichtigte die Polizei.
Die Polizei hatte nicht viel Mühe, die Identität der Toten festzustellen. Man fand in einer Jackentasche ein kleines Schächtelchen mit Medikamenten, auf dem Etikett war die Apotheke vermerkt, wo es gekauft worden war. Der Apotheker, der gebeten wurde, sich die Tote anzuschauen, konnte Barbara sofort als eine seiner Kundinnen identifizieren. Ursula Rein nahm die Nachricht am Telefon entgegen. Sie hatte eigentlich ständig damit gerechnet, dass es passieren würde. Aber der Tod, wenn er so nahe kommt, ist immer ein Schrecken.
Ursula Rein erstarrte innerlich in einer einzigen Sekunde. Nur das Weinen half ihr. Sie hat auch später lange um dieses Kind geweint, in einsamen Nächten und am Grab. Es war ja nicht nur, dass das Leben ihres Kindes noch vor ihr zu Ende gegangen war, es erschien ihr auch wie ein verlorenes Leben, das da in ihrem Schoß entstanden war. Der Vater nahm es scheinbar ohne große innere Bewegung auf. Cornelia war gespalten. Sie empfand viel Trauer um ihre Schwester und fühlte sich selbst verloren. Zugleich spürte sie auch Erleichterung. Sie wusste, dass sich Barbara mit dem freiwilligen Tod viel Kummer erspart hatte. Aber wie es ihre Natur war, waren diese Gefühle mehr unbewusst als bewusst.
Beim Abschied drückte Robert lange die Hand von Ursula Rein, und sie ließ es geschehen.

Es war eine kleine Trauergemeinschaft bei der Beerdigung, die Eltern, Cornelia und ihr Mann, Robert mit seiner Frau und die Mutter von Cornelias Mann. Sie umarmte Ursula Rein lange wortlos am offenen Grab.
Für Robert war Barbaras Geschichte mit der Beerdigung noch nicht erledigt. Er fragte sich, ob seine Unternehmungen etwas mit dem Selbstmord von Barbara zu tun hatten. Aber wie sollte er eine Antwort finden? Schließlich meldete er sich bei Dr. Kraus an.
Dr. med. Johannes Kraus war Facharzt für Psychiatrie. Zugleich hatte er eine Ausbildung als Psychotherapeut. Es war ein schon grau gewordener Mann, klein und ziemlich rundlich, dabei quicklebendig und ständig mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht. Er genoss bei den Kollegen und auch Patienten den Ruf, ein solider und kenntnisreicher, aber auch etwas kauziger Arzt zu sein. Kraus verstand sein Fachgebiet so, dass er den gesellschaftlichen Auftrag hatte, Verrücktheit für die Gesellschaft handhabbar zu machen. Natürlich kann man psychische Krankheiten auch heilen, jedenfalls in vielen Fällen. Aber immer hielt er das gar nicht für wünschenswert.
Manchmal malte er sich aus, dass es eine Gesellschaft irgendwie doch erreichen könnte, Psychosen und verwandte Zustände auszumerzen. Wenn er  in den Fachzeitschriften, die er regelmäßig las, die Begeisterung seiner Fachkollegen für bestimmte therapeutische Neuerungen spürte und von ihren Erfolgsberichten las, fragte er sich, ob das nicht doch eine realistische Perspektive sei. Vielleicht ist es doch möglich, die Psychose so auszurotten oder wenigstens zurück zu drängen wie z. B. die Pocken oder die Pest. Er versuchte sich vorzustellen, wie das sein würde. Ein gesellschaftlicher Zustand, in dem es keinen vor Neid kranken Richard den Dritten, keinen paranoiden Stalin, keinen größenwahnsinnigen Hitler gab; denn dass diese Menschen verrückter gewesen waren als seine kränksten Patienten, daran zweifelte er nicht. Entweder nämlich hatten sie an den Blödsinn, den sie da verkündeten, geglaubt und waren eben darum verrückt, oder sie glaubten nicht daran, dann waren sie wegen ihrer Mordgier verrückt.
Er stellte sich vor, dass jeder normal sein würde. Aber bei dieser Vorstellung wurde Dr. Kraus ganz beklommen. Er wollte einen solchen Zustand um nichts in der Welt, weil es ihm wie die Vollendung der Absurdität vorkam. Es gab eine unabweisbare Vorstellung in ihm, dass das eben gleichbedeutend damit sei, dass alles verrückt sei, ohne Freiheit, ohne Leben, ja ohne Entwicklung. Er konnte es nicht besser formulieren. Wenn man versuchen wollte, die Psychose abzuschaffen, dann wird sie zur Normalität. Er pflegte darauf hinzuweisen, dass der Nationalsozialismus psychische Krankheiten durch Mord ausrotten wollte, im Bolschewismus galt sie als Resterscheinung vorsozialistischer Zustände. Das geistig und seelisch Gesunde hat nur eine Chance, wenn auch die Psychose ein Existenzrecht hat.
Dieser Abschnitt und die Unterhaltung zwischen Robert und Dr. Kraus sind nicht in gelb gedruckt, weil es sich bei den Überzeugungen von Dr. Kraus mehr um eine Ansicht als um gesicherte Fakten handelt. 
Kraus war durch diese Gedanken verwirrt. Er hat auch nur im vertrauten Kreis davon erzählt; denn er  fürchtete, dafür komisch angesehen zu werden. Ehrlich gesagt schämte er sich ein bisschen dafür. Sagt man nicht, dass die Psychiater selbst alle verrückt sind? Aber dann dachte er wieder, dass es doch ein Zeichen des Wahns ist, den Zweifel nicht zuzulassen. Sein Zweifel konnte so falsch darum nicht sein. Dann war er zufrieden mit sich.
Der Doktor hatte oft versucht, seine Gedanken dazu niederzuschreiben. Er dachte, es seinen Patienten und Kollegen schuldig zu sein, eine klare und nachvollziehbare Sache daraus zu machen. Aber das ist ihm nie gelungen. Irgendwann kam er immer in Begründungsnöte. Er kam nicht weiter oder verhedderte sich in Widersprüche.
Über Barbara wusste Kraus noch ziemlich gut Bescheid, obwohl es doch schon einige Jahre her war, dass sie bei ihm gewesen war. Er wusste, dass sie psychotisch war, dass sie früher die Gewohnheit hatte, sich zu schneiden. Er wusste von ihren Krankenhausaufenthalten, den Medikamenten und dass sie in ihrem ganzen Leben nie ein Funktionsniveau erreicht hatte, das sie sozial auch nur annähernd unabhängig gemacht hätte. Ihm war auch nicht verborgen geblieben, wie schwer es die Eltern miteinander hatten. Aber von der letzten Entwicklung wusste er nichts, davon musste ihm Robert erzählen.
Dr. Kraus setzte ihm die Sache so auseinander:
Es genügt uns Menschen ja nicht, irgendwie zu leben. Wir müssen in der Gesellschaft eine Rolle übernehmen, die akzeptiert wird. Unsere Gesellschaft hält ein Repertoire von Lebensformen bereit, aus denen wir wählen können. Wir brauchen eine soziale Rolle, weil wir anders keinen Ort in der Gesellschaft finden und auch keine Identität ausbilden können. Frau Rein (damit meinte er natürlich Barbara) hatte keine soziale Rolle außerhalb ihrer Familie. Das definierte sie als psychisch schwer krank oder behindert. Als sie den jungen Mann kennen lernte, von dem Sie erzählt haben, drängte sich ihr die Notwendigkeit auf, ein neues Lebenskonzept zu entwickeln. Das vermute ich jedenfalls. 
Dr. Kraus machte eine Pause, fuhr dann fort:
Stellen Sie sich vor, die beiden hätten eine richtige Partnerschaft entwickelt. Das hätte nicht notwendig bedeutet, dass sie zusammengezogen oder berufstätig gewesen wären. Aber es hätte bedeutet, dass Frau Rein ihre Loyalitäten hätte ändern müssen. Die Mutter wäre nicht mehr diejenige gewesen, die bei ihr an erster Stelle gestanden hätte. Sie hätte nach wie vor ein enges Verhältnis zu ihr haben können. Das ist ja bei vielen Menschen so, dass Vater oder Mutter einen großen Einfluss auch bei den erwachsenen Kindern behalten. Aber es wäre eine Verbindlichkeit zwischen ihr und dem jungen Mann – Rene heißt er, sagten Sie? – entstanden, die die Mutter ausgeschlossen hätte. Das gehört zu einer Partnerschaft, wie schwierig sie sonst auch sein mag. Übrigens wäre sie durch diesen Entwicklungsschritt auch erwachsen geworden.
Noch mal machte er eine Pause und dachte nach. Robert schwieg und wartete darauf, dass Dr. Kraus fortfuhr:
Diese Loyalität zu ändern, ist schwierig. Man entlässt Mutter und Vater aus der Position, die wichtigsten Menschen zu sein, und bindet sich statt dessen an einen Mann oder eine Frau. Wieviel Schwierigkeiten das auch reifen Menschen macht, erlebt man immer wieder in Partnerschaften. Für Frau Rein wäre das die erste Schwierigkeit gewesen. Die zweite Schwierigkeit wäre gewesen, dass sie eine soziale Rolle hätte finden müssen, und sei es auch nur die, eine alleinstehende Frau zu sein. Aber das wäre immer noch etwas anderes, als die behinderte Tochter einer Familie zu sein. – Ich glaube, dass sie vor diesen Schwierigkeiten kapituliert hat, aber auch nicht mehr in den alten Status zurück wollte.
Ja gut, wandte Robert ein, aber Barbara brauchte doch gar keine großen Pläne für ihr Leben. Berufstätigkeit, Partnerbeziehung, das wurde von ihr doch gar nicht verlangt. Sie hatte ihr Auskommen, konnte darum doch frei entscheiden.
Genau das konnte sie nicht, so Dr. Kraus.
So lange sie ihr eingeschränktes Leben führte, waren ihr Selbstbild und die soziale Situation, in der sie lebte, in relativer Übereinstimmung. Sie war seelisch behindert, sie war irgendwie anders, sie konnte vieles nicht, und die Menschen um sie herum hatten das akzeptiert. Ich habe gerade versucht, Ihnen zu erklären, dass das Selbstbild, eine Behinderte zu sein, nicht ausreicht für eine Partnerschaft. Für Selbstbild können Sie auch Identität sagen.
Okay, okay. Robert hatte einen Gedanken:
Aber man entwickelt doch sein Selbstbild nicht abstrakt und handelt dann danach, sondern durch die Praxis entwickelt sich das Selbstbild. Wenn ich erfolgreiche Verhandlungen führe, dann bestärkt es mich darin, dass ich ein guter Anwalt bin. So ging es doch auch Barbara. Sie hat doch wahrscheinlich durch die Beziehung zu dem Rene eine gewisse Entwicklung gemacht. Sie hat gemerkt, dass sie mit anderen Menschen klar kommen kann. Sie ging selbständig einkaufen. Sie hat sich hübscher gekleidet. Das bildet doch das Selbstbild. Warum hat sie nicht einfach weitergemacht, sondern sich dann umgebracht, als sie schließlich gesünder wurde?
Was bedeutet es schon, dass wir ihren Zustand krank nennen? Ich will sagen, dass psychische Krankheit eine Definitionssache ist. Andere Kulturen sehen das anders als wir. Kommen Sie, ich zeige ihnen was.
Dr. Kraus ging zu einem Regal und kramte unter Papieren.
Hier lesen sie!
Er gab Robert einen Zeitungsausschnitt. Robert las:
Kadeshwari Baba steht seit 37 Jahren auf einem Bein. Auch gesprochen hat er seit 1964 nicht mehr. Sein kahl geschorener Kopf ist bunt bemalt, seine Jünger haben einen Baldachin zu seinem Schutz gegen die gleißende Sonne über ihm errichtet, aus safranfarbenen Stoffen und Girlanden. Baba ist einer ihrer Heiligen. Mit mehreren Hunderttausenden anderen Heiligen ist er aus den Wäldern und Höhen, den Wüsten und Weiten Indiens gekommen, um mit Millionen von Gläubigen das heiligste Fest der Hindus zu feiern: die Kumbh Mela.
Amar Bharatji ist ein heiliger Kollege vom stehenden Baba. Seit mehr als 40 Jahren sitzt er in Lotossitz, sein rechter Arm ist ständig zum Himmel gereckt. Die Hand ist nur noch eine Klaue, die Finger verkrüppelt, die Fingernägel hängen wie lange Würmer an den Unterarmen herab. Einen heiligen Schwur hat er getan, eine sadhana, zur Läuterung. Sein Haar hat seit Jahrzehnten keinen Kamm mehr geordnet, der Bart hängt ihm wild herab. Auch dieser Heilige spricht nicht mehr. Aber wenn er ein Grunzen von sich gibt, dann wissen seine Jünger schon, was er will. Meist ist es ein frisch gerollter Joint. Die Menschen drängen sich in dichten Scharen um ihn, in der Hoffnung, dass von seiner Heiligkeit etwas auf sie abfärbt.
Ein paar Schritte weiter liegt ein Sadhu bewegungslos auf dem Boden. Seinen Kopf hat er tief in den Sang eingegraben. Körperbeherrschung, Joga, Meditation. Neben ihm murmelt ein anderer unablässig Mantras, halbnackt und bis auf die Knochen abgemagert. Er tut es seit 69 Jahren.
Robert guckte auf die Kopfzeile: ”Kölner Stadt Anzeiger” las er. Das Datum war mit der Hand daneben geschrieben: ”25. 01. 2001  S. 3”.

Robert blickte auf Dr. Kraus.
Nach unserem Verständnis sind diese Heiligen in einem schizophrenen Zustand mit einer Starre, die die Psychiater ‘Katatonie’ nennen, erläuterte der.
Aber ihre Psychose hat in  dem gesellschaftlichen Gefüge, in dem sie leben, einen Sinn, der von den Menschen um sie herum hoch geachtet wird.
 Sehr beeindruckend, sagte Robert. Aber ich verstehe nicht genau, was Sie sagen wollen. Was hat das mit Barbara zu tun? Die wollte doch so eine verrückte Heilige nicht sein.
Stimmt. Ich habe es Ihnen gezeigt, weil ich damit untermauern wollte, dass bei uns den schizophrenen  Menschen keine soziale Funktion zuerkannt wird.
Dr. Kraus fiel in einen etwas dozierenden Ton:
Die Frage, die wir uns gestellt hatten, war, was Frau Rein anders als behindert hätte sein können. Um aus ihrem Status als Behinderte heraus zu kommen, hätte sie zunächst einmal eine Haltung zu ihrer Weiblichkeit entwickeln müssen. Frau Rein hat es versucht. Ihre Beziehung zu dem jungen Mann ist der Beweis. Ihr Problem muss gewesen sein, dass sie dabei in Widersprüche gekommen ist. Und mit Sicherheit haben ihr die Menschen um sie herum dabei nicht geholfen, sondern haben die Schwierigkeiten vergrößert, indem sie versuchten, Frau Rein in ihrer alten Rolle zu halten. – Nehmen wir den Vater: Der musste in dem Augenblick, in dem sie einen Freund hatte, anerkennen, dass seine Tochter eine Frau ist. Das hätte auch eine Veränderung seiner Beziehung zu seiner Frau bedeutet.
Verstehe ich nicht, wandte Robert ein. Dass Barbara ein Mädchen bzw. eine Frau war, wusste der Vater doch schon lange. Und was hat das mit seiner Beziehung zu seiner Frau zu tun?
Sie war ein Kind, wuchs heran zu einem jungen Mädchen und war hübsch. Ich habe ein Bild von ihr gesehen. Das hat ganz sicher auch der Vater bemerkt, und er hat auf irgendeine Art mit seinen sexuellen Bedürfnissen darauf reagieren müssen. Wenn er wahrnimmt, dass er eine hübsche Tochter hat, dann muss er als Vater die erotische Komponente in der Beziehung zu ihr unterdrücken. Mit der Ehefrau hat das in der Tat etwas zu tun. Wenn der Vater nämlich auf seine Tochter als Sexualobjekt verzichtet, dann bekräftigt er damit erstens die Einmaligkeit der sexuellen Beziehung zu seiner Frau und zweitens, dass die sexuelle Rivalität zwischen Tochter und Mutter, was ihn betrifft, zu Gunsten der Mutter entschieden ist.
Dr. Kraus hatte sich etwas ereifert:
Das erscheint Ihnen vielleicht selbstverständlich. Aber das ist es nicht. Es erfordert seelische Arbeit und viel Disziplin. Sie sehen es doch an der Familie Rein. Wenn man die Weiblichkeit der Tochter nicht zur Kenntnis nimmt, erspart man sich diese Mühen. Und die Tochter hat das Spiel mit gemacht. Sie hat so getan, als ob sie gar keine Frau ist.
Aber wenn Ihnen das alles zu sehr Psychoanalyse ist, dann sehen Sie es einfach so: sagte Dr. Kraus.
Wenn Frau Rein sich so entwickelt hätte, dass sie die Fürsorge der Eltern nicht mehr brauchte, wären die Eltern wesentlich mehr mit sich und ihrer Beziehung konfrontiert gewesen und hätten sich damit auseinander setzen müssen, was sie als Paar darstellen. So weit ich weiß, haben sie aber eine sehr schlechte Ehe und von daher viele Gründe, diese Konfrontation zu vermeiden.
Das letzte leuchtet mir viel mehr ein, sagte Robert.
Aber sagen Sie Doktor, für den  Selbstmord von Barbara bin ich mitverantwortlich. Meine Aktivitäten haben sie den Eltern entfremdet, haben sie mehr eine Frau sein lassen, und das hat sie schließlich zum Selbstmord getrieben.
Ja und nein, mein Lieber. Der Anlass waren Sie, denke ich, schon. Aber verantwortlich für ihren Selbstmord ist sie selbst und niemand anders.
Doktor, sagte Robert, Sie wollen mich schonen.
Nun, schonen will ich Sie nicht, obwohl ich denke, so uneigennützig waren Ihre Motive auch wieder nicht.
Wie meinen Sie das? Was hatte ich denn davon, mich um Barbara zu kümmern. Von einem Helfersyndrom werde ich ansonsten nicht geplagt.
Ich bin an dem Punkt auch nicht so sicher. Erst noch mal zu dem Dilemma, in dem Frau Rein steckte. Sie wusste, was es bedeutete, sich eine neue Lebensperspektive zu erschließen. Als sie bei mir war, haben wir darüber gesprochen. Sie hatte die Wahl. Entweder sie machte so weiter wie vorher. Wenn sie Glück gehabt hätte, wäre es ein ruhiges Leben ohne Besonderheiten geworden. Der einzige Bezugsrahmen wäre die Familie geblieben. Oder sie würde etwas ändern. Das wäre eine Chance gewesen zu leben. Aber um diesen neuen Weg zu realisieren, hätte sie sich neu orientieren müssen, sie hätte die Zweifel und Widerstände aller Menschen um sich herum, der Eltern, Freunde, Psychiater etc. überwinden müssen. Dass das nicht ohne Blut und Tränen möglich sein würde – um es mal so zu sagen – war klar.
Er fügte hinzu:
Ich habe ihr gesagt, dass ich ihr weder zu dem einen und noch zu dem anderen raten kann.
Robert war überrascht. Es beeindruckte ihn, was der alte Mann da sagte.
Dr. Kraus machte eine lange Pause. Er stand auf und ging in seinem Arbeitszimmer hin und her. Schließlich sagte er:
Viel ist es nicht mehr, was ich dazu sagen kann. Wenn sie ihre Identität daraus bezog, dass sie für ihre Eltern ein Problem abhandelte und sei es auch nur dieses, dass ihre behinderte Existenz es ihnen möglich machte, beieinander zu bleiben, wie sollte sie sich dann eine andere Identität geben?
Also sind die Eltern schuld an dem Selbstmord.
Nein, die Eltern sind nicht schuld. Aber sie können sich ihr weiteres Leben über die Krankheit ihrer Tochter unterhalten und sich auch gegenseitig die Schuld für den Suizid zuschieben. Sie können aber auch anerkennen, dass ihnen die Tochter durch ihren Selbstmord bewiesen hat, dass sie, wie alle Eltern, letztlich doch nicht bestimmen können, was die Kinder tun. Diese  Ohnmacht hinnehmen, hieße um ihre Tochter zu trauern. Dann würde alles anders sein, weil sie anerkennen würden, dass ihre Tochter eine eigene Existenz hatte. Man kann und sollte nicht sagen, dass die Eltern schuld an der Entwicklung waren. Ja, auch die Schuld an der psychischen Störung darf man ihnen nicht geben.
Erst beziehen Sie sich auf die Eltern, und dann sagen Sie, die hätten keine Schuld.
Ich kann es Ihnen nicht beweisen. Ich kenne auch keine wissenschaftlichen Arbeiten dazu. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die Frage, ob jemand verrückt ist oder nicht, allein von der individuellen Verfassung einzelner Menschen abhängt, obwohl natürlich die Eltern die Entwicklung der Kinder bestimmen. Wenn wir die Psychose nicht brauchen würden, gäbe es sie nicht. Nicht weil Sie sich in ihr Leben eingemischt haben, haben Sie einen Anteil an ihrem Schicksal, sondern weil wir alle etwas davon haben, dass es Menschen wie Frau Rein gibt. Wir verleugnen das.
Die Unterhaltung endete hier. Der Doktor hatte noch Patienten, die auf ihn warteten.


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