13. Versuch zu leben – Gibt es überhaupt eine Lösung für die Schizophrenie?

Als Barbara entlassen wurde, ging es ihr kein bisschen besser als früher. Sie bekam eine Menge an Medikamenten, die sie beruhigten. Aber gerade dieses Gefühl mochte sie nicht. Und die Symptome, vor allem die Ängste, die Speiserituale und die bulimischen Anfälle, hatten sich nicht oder nur unwesentlich gebessert. Aber das war kein Grund für Barbara, enttäuscht zu sein. Sie hatte in der Klinik sowieso sehr schnell die Überzeugung gewonnen, dass es dort um etwas ganz anderes ging, als gesund zu werden.
Psychiatrische Kliniken haben unter anderem die Aufgabe, abnormes Verhalten als krank zu etikettieren.
Barbara hatte andererseits durchaus registriert, dass viele der Patienten auf ihrer Station im Verlauf ihres Aufenthaltes eine deutliche Besserung aufwiesen. Die Alkoholiker wurden nüchtern und  fingen an sich mit den Realitäten zu beschäftigen, die Depressiven wurden besser gelaunt, die Schizophrenen hatten weniger Halluzinationen. Und dabei halfen bei einigen der Patienten auch ganz unübersehbar die Medikamente. Aber bei ihr war es eben anderes und sie war auch kein Einzelfall.
Zu ihren Eltern entlassen, hörte Barbara am ersten Tag schon damit auf, weiter Medikamente zu nehmen. Dadurch wurde sie wenigstens die Nebenwirkungen los. Die Familie unterstützte Barbara darin. Später änderte sich ihre Haltung dazu, hatte sie das Gefühl, die Medikamente zu brauchen. Aber zu der Zeit hatte sie auch andere, nämlich psychotische Symptome.
Trotzdem hatte sich etwas durch den Klinikaufenthalt geändert. Barbara war nicht mehr nur Barbara, sie war nun krank. Und diese Krankheit definierte sie. Das war mehr als ein beiläufiges Attribut. Es hieß, dass sich Barbara anders benehmen konnte als die Menschen sonst, konnte Dinge tun, die unverständlich und unsinnig waren. Ja, man erwartete das von ihr; denn die Krankheit, an der Barbara litt, musste sich auch irgendwie äußern.
Alle waren entlastet, vor allem Barbara selbst. Sie konnte nun ihre Symptome als richtige Zeichen von Krankheit ansehen. Wie bei allen chronischen Krankheiten waren sie mal stärker, mal schwächer. Sie beobachtete sich unter diesen Gesichtspunkten und konnte mit der Mutter darüber sprechen.
Heute ist es wieder besonders stark, sagte sie zur Mutter und meinte ihren Zwang, das Gegessene aufzuschreiben. Die Mutter nickte, seufzte und dachte:
Das arme Kind
Die Frage aber, wie die Krankheit entstanden war, beantwortete die Mutter mit der These, dass ihr Mann diese Krankheit in die Familie gebracht hatte. Hatten nicht auch die Ärzte im Krankenhaus gesagt, dass die Krankheit vererbt worden ist? Herr Rein wehrte sich gegen diese Zuschreibung, aber unbewusst hat er sie doch akzeptiert. Barbara selbst stellte sich diese Frage nicht. Sie registrierte, wie sehr sie aus dem normalen Leben ausgeschlossen war. Sie hatte keine andere Zukunft als die Wiederholung der immer gleichen Zwänge.  Morgen und Übermorgen und nächste Woche und nächstes Jahr würde sie sich schneiden und überfressen und kotzen. Das war klar. Neu war, dass nun auch nichts anderes mehr von ihr erwartet wurde.
Und doch, noch einmal versuchte sie sich dagegen aufzulehnen. Barbara machte einen zweiten Versuch einer Psychotherapie. Diesmal geriet sie an eine Therapeutin, die Psychoanalytikerin war und die sich nicht so leicht einspannen ließ. Barbara erzählte von ihren Bemühungen, sich an den selbstgemachten Speiseplan zu halten, von ihren Ängsten, die scheinbar unvermittelt irgendwann kamen, von ihren Selbstverletzungen. Von der Mutter erzählte sie diesmal mehr nebenbei.
Meine Mutter wollte, dass ich zu dem Essen mit meiner Oma mitgehe, aber ich konnte nicht.
Meine Mutter hat gesagt, ich solle mich um einen Praktikumsplatz bemühen. Es gab da eine Anzeige in der Zeitung. Für die Vorbereitung zur Ausbildung als Krankenschwester. Aber ich habe das nicht gemacht.
Barbara sprach mit gesenktem Kopf, leise, ohne Erregung. Nur manchmal blickte sie forschend in das Gesicht der Therapeutin. Diese Frau war erfahren in ihrem Beruf und machte über Wochen hin kaum eine Anmerkung zu den Berichten von Barbara außer:
Ach ja, ich verstehe, hm.
Ihr Bemühen war, erst einmal das Selbstvertrauen von Barbara zu stärken und das katastrophale Selbstbild von Barbara ein bisschen aufzuwerten. Sie versuchte Barbara klar zu machen, dass die scheinbar unsinnigen Symptome einen Sinn hatten. Die Symptome waren Ausdruck von Barbaras Bemühen, mit einer aussichtslosen Situation doch irgendwie zurecht zu kommen. Insofern verdiente Barbara Respekt.
Wenn Sie sich mit Ihrem Speiseplan beschäftigen, können Sie Ihrem Leben doch eine Ordnung geben.
Frau German dachte: Und brauchen sich nicht der Mutter zu verweigern.
Wenn Sie sich verletzen, können Sie dadurch schwierige Situationen aushalten, können die Sache mit sich ausmachen.
Frau German dachte: Wenn Sie sich selbst Schmerz zufügen, bestrafen Sie sich für den Wunsch, anderen Schmerzen zufügen zu wollen, bestrafen Sie sich, bevor Sie wirklich etwas getan haben. So können  Sie die anderen schonen und brauchen nicht mit  ihnen streiten.
Der Schmerz, den Sie sich zufügen, beruhigt Sie. Sie fühlen sich und Ihren Körper. Der körperliche Schmerz ist leichter auszuhalten als die innere Spannung.
Frau German dachte: Vor allem leichter auszuhalten als die mörderische Wut.
Manchmal versuchte sie, die Abhängigkeit von der Mutter deutlicher zu machen, manchmal auch unverblümter mit einer Deutung, die mal mehr, mal weniger leicht zu durchschauen war:
In Ihren Panikattacken kann die Mutter Ihnen behilflich sein. So bleibt die Beziehung zur Mutter gut.
Wenn Sie sich selbst schneiden, brauchen Sie anderen nicht weh zu tun.
Frau German dachte: Was Sie tief in Ihrem Unbewussten wahrscheinlich wollen.
Und indirekt an die Mutter gerichtet: Ihrer Mutter ist kein Opfer zu groß für Sie.
Frau German dachte: Um Sie an sich zu binden. Was Sie aber auch genießen.
Irgendwann würde sie Barbara diese Deutungen auch mitteilen müssen. Aber der Zeitpunkt war noch lange nicht gekommen.
Über die Symptome wusste die Therapeutin ziemlich bald Bescheid. Das Problem war ein anderes. Was wollte Barbara von der Therapie? Sie wollte weniger Angst haben und mehr Freude an ihrem Leben, das war es jedenfalls, was sie der Therapeutin sagte.
Aber war Barbara auch bereit, die dafür notwendigen Veränderungen in Kauf zu nehmen?
Weniger Angst und mehr Freude am Leben, das würde bedeuten, dass Barbara mehr Gefühle zulassen und sich mehr Befriedigung ihrer Triebe gestatten müsste. Sie müsste empfinden können, dass ein Spaziergang, ein Plausch mit einer Freundin Spaß macht; dass man gefahrlos phantasieren kann, wie es in Afrika ist, oder mit dem Auto des Vaters davon zu fahren, die Eltern zurecht zu weisen etc. Die ganze Kindheit ist voll von solchen Phantasien. Je verrückter die Vorstellungen, desto besser.
Aber wie bringt man einem Menschen Lust bei? Man kann ihn locken, ihn verführen. Genau das versuchte die Therapeutin. Sie wollte ihr weder etwas einimpfen noch etwas nehmen. Sie wollte Gefühle aus der Verbannung holen und gefangene Wünsche befreien.
Auf jeden Fall wollte sie vermeiden, in einen Gegensatz zur Familie von Barbara zu geraten; denn was wie ein Dissens in der Familie erschien, also der Streit zwischen Mutter und Vater, war längst ein Dissens in Barbara selbst. Und Barbara konnte sich nicht für eine Seite entscheiden. Sie legte Wert darauf, beiden Seiten in Barbara, aber auch Barbara und ihren Eltern als Personen, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und sie miteinander zu versöhnen. Doch lag das letztere, auch bei einem günstigen Verlauf der Therapie, noch in weiter Ferne.
Frau German war eine mütterliche, warmherzige Frau. Sie hatte Gefallen an Barbara gefunden und sie empfand Mitleid mit ihr. Sie war bereit, um Barbara zu kämpfen, und, anders als ihr Kollege, ging sie davon aus, dass Barbara den entscheidenden Schritt ganz allein würde tun müssen. In ihren Augen gab es keine Alternative dazu. Im übrigen hatte Frau German selbst halbwüchsige Kinder und konnte so den Standpunkt der Mutter Barbaras gut verstehen, wenngleich sie natürlich deren Haltung gegenüber Barbara in vielen Punkten – so weit sie das überschauen konnte – nicht teilte.
Barbara kam einmal die Woche zu Frau German. Wie gesagt, Frau German mochte Barbara. Insofern freute sie sich, sie zu sehen. Andererseits passierte so wenig in den Stunden.
Auch heute saß Barbara nur mit halbem Po auf dem Stuhl, rang die Hände und blickte auf den Fußboden. Ganz monoton war die Stimme. Im Kopf von Frau German spielte sich ab, was in Abwandlungen schon oft abgelaufen war.
Immer das gleiche ihre Speiserituale die Mutter die Hoffnungslosigkeit kann ich auswendig sie ist aber manchmal hübsch dann leuchten die Augen Unsinn das mit der Mutter wie sie mich von unten anguckt will mich kontrollieren was ich mache vielleicht am Hintern kratze oder was schreibe oder irgendwas wird sie aber nicht verstehen wenn ich sage ‘Sie wollen mich kontrollieren’ müsste auch ihr Motiv verstehen Hass die will nichts verstehen gar nichts macht nur was man ihr sagt lässt sich benutzen tut lammfromm hoppeliges Lämmchen ist doch ein kluges Kind ihre Wut schiebt sie mir in die Schuhe guter Einfall sollte sagen Sie sind stinkwütend guckt dann mit großen Augen erschreckt sagt nichts nützt nichts erst 5 Minuten vorbei das dauert heute langweilig soll sie doch schweigen was war noch mit Marie Schule schönes Wetter man könnte in den Stadtpark gehen  noch mal mit der kleinen Marie durch den Sommerwald ist jetzt aus dem Alter raus will was eigenes machen ohne mich die alte Mutter.
Es ist schönes Wetter draußen, Frau Rein. Da wird man gut gelaunt und neugierig auf die Welt.
Marie geht auch lieber in die Stadt wegen der Geschäfte nur schöne Kleider im Kopf hätte ich mal deren Figur für das schicke Kostüm dunkelblau wäre auch gut für die Arbeit sollte ich doch kaufen macht mich schlank was sagt sie gestern zu viel gegessen Kartoffel na und würde ihrer Figur gut tun ist gut gewachsen…
Was Barbara erzählte, war langweilig, weil sie keine Spannung aufkommen ließ. Sie war es ja nicht gewöhnt, Menschen für sich zu gewinnen.
So hatte es Frau German schwer, aufmerksam zu bleiben. Ihre Gedanken schweiften ab. Aber sie war eine erfahrene Therapeutin und darum hatte sie die Sicherheit, dass die Abschweifungen etwas mit dem zu tun hatten, was Barbara sagen wollte. Ja, oft verrieten ihr ihre eigenen Gedanken mehr darüber, was Barbara unbewusst meinte als das, was sie erzählte. Frau German dachte z. B. an ihre Tochter Marie und wie die sich gerne herausputzt und dass dieses junge Mädchen viel hübscher ist als sie, die Mutter. Diese Phantasien interpretierte sie so, dass Barbara vermutlich von solchen Gefühlen weiblicher Rivalität bewegt war, wenn auch unbewusst.
Barbara erwähnte, dass die Mutter ihr geraten hatte, sich mit einer Freundin zu treffen.
Frau Rein, das ist doch eine gute Idee, die Freundin anzurufen und zu treffen. Wie heißt sie denn?
Ob sie überhaupt anbeißt wird Angst bekommen hält den Vergleich mit dieser Freundin gar nicht aus wird davor flüchten sich statt dessen wieder mit ihrem Speiseplan beschäftigen hat keine Lust Nadine heißt sie warum soll die absagen.
Warum soll Nadine sich nicht über einen Anruf freuen? Die ist doch auch neugierig auf Sie. Was würden Sie denn gerne mit ihr machen?
Na also doch Spazieren gehen ohne Angst in die Welt gehen reden was sie in der Zwischenzeit gemacht hat die alte Beziehung hat sie gern gehabt.
Sie haben diese Nadine gemocht? Was für ein Mädchen war sie?
Meine natürlich ob sie hübsch war sagt nichts dazu neidisch klar hatte auch Probleme mit Mutter hatten ein Bündnis gegen ihre Mütter die hat es weiter gebracht denkt sie sich so.
Von Ihrer Freundin wissen Sie, dass die in vielen Dingen so fühlt wie Sie?
Schweigt war das klar was ich meine ihre Neugier ihre Lust auf die Welt schweigt immer noch hat Recht ich bin anders als die Mutter…
Frau Rein, Sie bemerken, dass sie zu den Menschen sehr verschiedene Beziehungen haben und dass man auch mehreren Menschen nahe stehen kann.
Vielleicht überlegen wir einmal, wie es sein könnte, wenn Sie Ihre Freundin Nadine treffen. Worüber könnten Sie miteinander reden?
Wenn das in dem Tempo weitergeht kommt die in fünf Jahren nicht von der Stelle…
Am Ende der Stunde:
Auf Wiedersehen, Frau Rein.
Lächelt tapferes Mädchen.
Nach gut einem Jahr schöpfte Frau German Hoffnung. Barbara schien sich auf sie einlassen zu können. Sie sprach erstmals darüber, wie es zum Beispiel wäre, wenn sie eine Ausbildung machte. Aber das war dann doch zu viel für Barbara. Sie machte einen Selbstmordversuch, bzw. etwas, was wie ein Selbstmordversuch inszeniert war. Sie schrieb einen Abschiedsbrief, ging auf eine Brücke und tat so, als ob sie sich davon hinunter stürzen wollte. Das alles war nicht besonders gefährlich, aber es war wie eine Notbremse. Die Familie und der Hausarzt sorgten dafür, dass sie für lange Zeit in die Klinik eingewiesen wurde. Barbara ”braucht eine intensivere Therapie”. Sie kam nicht zu Frau German zurück.
Nicht lange danach wurde sie psychotisch. Die Ärzte im Krankenhaus meinten, dass die Psychotherapie bei Frau German ein Auslöser gewesen sein könnte, woran man doch erkennen könne, wie schädlich die analytische Psychotherapie ist.
Da haben die Ärzte und die Eltern einiges durcheinander geworfen.
Barbara hat Fortschritte gemacht. Fortschritt hieß, dass Barbara etwas mehr Eigenständigkeit gewonnen hatte. Aber die damit verbundene Distanz zu den Eltern konnten weder sie noch die Eltern ertragen. So war Barbara in einem Dilemma. Sie konnte weder ihre Eigenständigkeit weiter verfolgen noch zurück in die alte Abhängigkeit. Der Selbstmordversuch war eine hilflose Geste, die darauf hinwies. Barbara hatte ja nicht die Fähigkeit, ihre Beweggründe offen darzulegen, und in der Familie Rein gab es auch keine Diskussionskultur. So gesehen war es also richtig, dass die Psychotherapie der Auslöser des Selbstmordversuchs war. Aber die Antwort musste nicht sein, die Therapie abzubrechen. Barbara hätte die Anerkennung gebraucht, dass sie ihren Weg allein gehen musste. Allerdings hätte das für sie und die Eltern bedeutet, dass sie sich einsamer gefühlt hätten.
Dass Barbara bald danach psychotisch wurde, ist, anders als es gesagt wurde, eher eine Folge davon, dass die Therapie abgebrochen wurde; denn die Situation war für Barbara nun völlig hoffnungslos geworden.
Die Mutter begriff es sofort, als ihr Kind nun verrückt geworden war. Barbara war völlig durcheinander. Sie lachte und weinte, schlief nicht, rannte auf die Straße, wo sie fremde Leute ansprach. Die Mutter erschreckte das furchtbar, sie packte Barbara und brachte sie in die Klinik, was kein Problem war. Danach fing sich Barbara allmählich wieder. Sie erholte sich aber nie ganz. In Abständen kam es immer wieder zum Aufbrechen der akuten Symptomatik.
Für die Eltern bedeutete diese Entwicklung der Krankheit von Barbara eine neue Verschärfung. Sie wussten inzwischen, dass es eine Krankheit war, an der Barbara  litt.  Nun zeigte die Krankheit ihr neues Gesicht.
Als die Hochzeit von Cornelia festgesetzt wurde, ging es Barbara zunehmend schlechter. Sie wurde aggressiv, schrie viel und lief weg. Tagelang war sie verschwunden. Anders als sonst, weigerte sie sich, in die Klinik zu gehen. Das schwierige war, sie überhaupt zu finden.
Sie ist so hilflos! sagte die Mutter immer wieder. In den meisten Fällen tauchte Barbara nach einigen Stunden oder auch schon mal nach Tagen irgendwo auf, mehr oder weniger verwahrlost. Was sie in der Zwischenzeit erlebt hatte, darüber gab sie nie Auskunft. Einmal wies sie Blessuren auf, die darauf hinwiesen, dass sie geschlagen worden war. Auch für eine Vergewaltigung gab es Hinweise.  Barbara ließ sich auf kein Gespräch ein, fing sofort an zu schreien, wenn man versuchte, etwas heraus zu bekommen. Die Krankheit und ihr unberechenbarer Verlauf wurde für all das verantwortlich gemacht.
In Wahrheit waren es schwache Versuche der Verselbständigung und im Kern gesunde Reaktion von Eifersucht und Neid. Nur, das waren inzwischen Kategorien geworden, die für Barbara nicht mehr galten. Darum suchte und fand keiner diese Erklärung für die absurd erscheinenden Symptome, am wenigsten Barbara selbst.
Aber dann wurde es auch wieder besser und die Ärzte rieten zu, als die Mutter nach der Hochzeit von Cornelia den Plan fasste, eine Wohnung für Barbara zu suchen.
Nachdem Barbara ihre eigene kleine Wohnung hatte, rief sie manchmal die Mutter an:
Ich muss in die Klinik sagte sie einfach. Oder:
Ich schaffe es nicht.
Die Mutter fuhr dann los und brachte Barbara in die Klinik. In anderen Fällen  war es die Mutter, die darauf drängte, oder ein Arzt. Das führte jedenfalls dazu, dass der Aufenthalt ihrer Tochter in psychiatrischen Institutionen für die Familie Rein den Charakter von Normalität bekam.
Barbara hatte eben eine heimtückische Krankheit, die ihr wahres Gesicht nur gelegentlich zeigte. Die Krankheit hauste im Verborgenen in ihr, wie Bakterien oder Viren, die sich in einer Ruhephase auf den nächsten Angriff vorbereiteten. Die Ärzte betonten, dass die Krankheit von Barbara nicht von Krankheitserregern dieser Art verursacht sei, doch entsprach es ihrem Denkschema.
Für Barbara war das anders. Wenn das, was die Ärzte die ”Krankheit” nannten, sichtbar wurde, wenn Barbara psychotisch wurde, dann fühlte sie sich meistens nicht sehr gut. Aber manchmal fühlte sie sich dann überhaupt nicht krank. Dann fühlte sie sich im Gegenteil erst richtig gesund. Dann war sie aufsässig, floh ihre Familie, ohne Schuldgefühle zu haben, und nahm sich vieles, ohne zu fragen. Es waren die Menschen um sie herum, die entsetzt waren und sich vor der Krankheit erschreckten. Barbara sagte in diesen Phasen, dass diese Menschen selbst krank waren. Sie erzählte, dass die Mutter von ihrer Angst oft aufgefressen wurde, und dass sie neidisch auf die Tochter war, ihr nichts an Erfolg gönnte, dass der Vater überhaupt nicht wusste, was Liebe ist, und dass er der Mutter hörig war. Sie sagte es allen, unverblümt und offen. Aber natürlich dachte jeder, dass die Krankheit den Geist von Barbara völlig verwirrt hatte.
Doch nützte ihr dieses Wissen auch nicht. In den psychotischen Phasen bekam sie irgendwann Mitleid mit ihrer Familie, die von ihrer Verfassung immer sehr erschreckt war, und fügte sich dem, was die Familie Behandlung nannte. Nachher in den Phasen der Ruhe verleugnete sie ihr Wissen um die Wahrheit und nannte die Psychose auch Krankheit.
Zu einem Problem wurde es allerdings, wenn sie zu den Ärzten ging. Die Ärzte taten unterschiedslos so, als sei die Barbara, die mit ihnen in der ruhigen Phase sprach, die ganze Barbara. Das, was in ihrer psychotischen Zeit auftauchte, wurde wie ein Feind, der sich glücklicherweise zur Zeit zurückgezogen hatte, behandelt. Zurückgezogen hatte er sich allerdings in Barbara.
Der Hausarzt, Dr. Abel ließ sich einen Bericht der Klinik kommen und verordnete die Medikamente, die von den Fachärzten für Psychiatrie vorgeschlagen wurden. Nach irgendwelchen Lebensereignissen oder psychischen Beschwerden fragte er nicht, obwohl er immer ein offenes Ohr für ihre Lebenssituation oder Lebensprobleme hatte, so weit Barbara in der Lage war, darüber zu sprechen. Aber das hatte in seinem Verständnis mit ihrer Krankheit nichts zu tun. Er sprach mit Barbara über ihre Krankheit, als hätte sie z. B. ein Nierenleiden.
Die Psychiater hatten diese einfache Lösung nicht. Sie kannten ja den Feind. Anfangs ging Barbara zu einem, der eine vornehm eingerichtete Praxis hatte, und bei dem sie sich eigentlich deplaciert vorkam. Bei ihm brauchte Barbara nie lange zu warten. Die Fragen, die der Psychiater für sie hatte, waren wenige und fast immer die gleichen:
Wie geht es Ihnen?
Können Sie gut schlafen?
Haben Sie Angst?
Wenn Barbara schon mal anmerkte, dass sie sehr apathisch sei, schlug er vor, das Medikament zu wechseln. Aber das wollte Barbara nicht. Sie hätte gern erzählt, dass sie trotz der Medikamente manchmal von Ängsten gequält wurde, ohne fürchten zu müssen, dass der Arzt versuchte, sich  des Problems dadurch zu entledigen, dass er noch mehr Medikamente verschrieb, oder auch, dass sie die Psychose manchmal wie eine Befreiung erlebte. In dieser Praxis bekam sie das Gefühl, Träger gefährlicher Keime zu sein, vor denen der Arzt sich und seine anderen Patienten schützen wollte.
Darum ging sie bald in eine andere Praxis. Die Ärztin dort nahm sich mehr Zeit für sie und  hatte offensichtlich auch mehr Patienten ihrer Art. Sie war eine liebe Frau, die sich lange die Beschwerden von Barbara anhörte, ihr Mut machte, aber schließlich auch nicht helfen konnte. Sie schien sehr ängstlich zu sein, fragte immer wieder danach, was Barbara so den ganzen Tag machte, wollte sie viele Male in die Klinik einweisen oder in ein Heim und war immer erst dann beruhigt, wenn die Mutter von Barbara sich meldete und entschied, was nun zu tun war. Weil sie so teilnahmsvoll zuhörte, mochte Barbara diese Ärztin. Es war auch ein Fortschritt gegenüber ihrem Kollegen. Aber sie hatte offensichtlich selbst zu viel Angst vor der ”Krankheit”, um sich mit ihr auseinandersetzen zu können.
Auf Anraten der Mutter machte Barbara auch die Bekanntschaft einer Homöopathin. Sie erzählte ihr ihre ganze Lebensgeschichte, beschrieb minutiös ihre Beschwerden und ihren Lebensrhythmus bzw. ihre Lebensgewohnheiten einschließlich der früheren Speiserituale. Die Frau hörte zu, ließ auch nichts aus, aber Barbara hatte den Eindruck, dass sie den Ernst der Lage nicht begriffen hatte. Sie leugnete, dass es überhaupt einen Feind gab. Barbara hätte ihre Psychose selbst ja gar nicht ”Feind” genannt. Aber dass es einen unversöhnlichen Gegensatz gab, und dass beides in ihr lebte, das war nicht in Zweifel zu ziehen. Für die Homöopathin waren die Beschwerden nur Entgleisungen ansonsten gut funktionierender Lebensprozesse. Die Ärztin verschrieb ihr Pillen und Tropfen, die sie genau nach Vorschrift nehmen musste. Es schien Barbara eine Zeitlang so, als ob sich etwas in ihr änderte, aber bald erlosch dieser Eindruck wieder.
Lucie meldete sich immer mal wieder. Mit der Zeit wurden aber die Abstände zwischen den Besuchen bzw. Anrufen größer. Schließlich rief Lucie auch nicht mehr bei Barbara selbst an, sondern erkundigte sich bei der Mutter nach dem Befinden von Barbara. Die Mutter erzählte dann von den Schwierigkeiten Barbaras.
Sie war jetzt schon lange nicht mehr in der Klinik. Die Medikamente nimmt sie ja. Aber die helfen auch nicht mehr. Ich weiß nicht, was sie den ganzen Tag tut. Es muss doch schrecklich langweilig für sie sein. Sie sieht nicht mal fern. Früher hat sie ja noch gelesen. Aber das tut sie auch nicht mehr.
Natürlich, geh sie mal besuchen. Ich kann mal mit ihr darüber sprechen.
Es kam auch noch einmal zu einem Besuch. Barbara freute sich ganz offensichtlich. Aber sie sagte fast nichts. Lucie war durch das merkwürdige Verhalten von Barbara geängstigt. Barbara ließ überhaupt keine Gefühlsreaktionen erkennen. Lucie erzählte von ihrem beruflichen Alltag. Sie war Grundschullehrerin und hatte Spaß an dem Umgang mit Kindern. Mit den Eltern der Kinder kam sie nicht immer so gut aus.
Die Männer sind ja meist ganz nett, jedenfalls wenn ihre Frauen nicht dabei sind. Aber die Mütter wissen immer alles besser.
Lucie merkte schnell, dass Barbara damit nichts anfangen konnte. So versuchte sie es mit der Wohnungseinrichtung. Sie wollte ihre Freundin in ein Gespräch darüber hineinziehen, wie die karge Möblierung freundlicher werden könnte. Barbara sagte ”ja” und ”nein”. Der Besuch war schnell zu Ende. Es war der letzte.
Mit einem Mitarbeiter des Zentrums für psychisch Kranke freundete sich Barbara etwas an. Es war Klaus, ein älterer Mann, der jedem erzählte, dass er schwul war. Klaus sollte sich um die Besucher dieses Zentrums kümmern, was er auch engagiert tat. Aber er machte es auf seine Art. Er hatte Talent zur Darstellung, war immer zum Scherzen aufgelegt und sah den Sinn seiner Arbeit vor allem darin, seinen Schützlingen Lebensmut zu machen. Andere Dinge, ob etwa Barbara ihre Medikamente nahm, ob sie Ordnung oder sich sonst an die Regeln hielt, die ihr von wem auch immer vorgegeben waren, interessierte ihn nicht eigentlich. Wenn er sie sah, rief er, als ob er einen Star ankündigen wollte:
Halloooo! Barbara! Er umarmte sie, gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange und fing an zu erzählen. Er war ein sehr zuverlässiger Mensch. Barbara mochte ihn, weil er sie, was ihre Lebensführung betraf, in Ruhe ließ. Er führte ihr das Leben vor und verlangte nicht, dass sie selbst aktiv wurde.
Die Tage, in denen Klaus von anderen Männern umschwärmt wurde, wenn es denn überhaupt mal so gewesen war, waren vorbei. Sein Alter hatte ihm die Schönheit, die er in früheren Jahren besessen haben mochte, geraubt. Die Haut war faltig, das Haar dünn geworden. Zudem blieb er, trotz aller Anstrengungen abzunehmen, sehr rundlich. Das bekümmerte ihn sehr. Einen Partner hatte er nicht. Auch darüber sprach er häufig. Abgesehen vom Beruflichen lebte er ausschließlich in der Schwulenszene, kehrte nur immer wieder zu seiner Mutter zurück, von der er mit Respekt und Abscheu zugleich sprach. Er war ein großer Kenner und Liebhaber der Künste. Wenn er von einer Vernissage sprach, die er besucht hatte, war so viel Begeisterung in seiner Beschreibung , dass man Lust bekam, auch dorthin zu gehen.
Manchmal besuchte er Barbara in ihrer Wohnung, manchmal ging er mit ihr irgendwohin. Er machte aus allem ein aufregendes Ereignis. Wenn sie spazieren gingen, er hatte oft einen großen bunten Regenschirm bei sich, erzählte er, was er erlebt hatte und spielte es Barbara beim Gehen mit großen Gesten vor. Klaus hatte sich mal wieder in einen jungen Mann verguckt, den er in einer Kneipe gesehen hatte. Er hatte ihm in wunderbaren Worten deutlich machen wollen, wie sehr ihn seine Schönheit bezauberte. Dabei vergaß er nicht zu betonen, dass die Schönheit dieses Knaben Augen brauchte, die sie sahen. Klaus ging einige Schritte vor Barbara und deklamierte mit übertriebener Gestik.
Du bist die Sonne, die meine Augen sehen lässt, habe ich gesagt, und er streckte die Arme gegen den grauen Himmel, wo im Augenblick aber keine Sonne zu sehen war.
Ach, der göttliche Phidias, umsonst, umsonst hat er gelebt, weil er dich nicht gesehen hat. Zu Barbara gewandt:
Großer griechischer Bildhauer.
Und dann sind mir vor Begeisterung die Worte ausgegangen und ich habe ihm gesagt, dass ich ihn hinreißend finde. – Und weißt du, was der Kerl gemacht hat? Er hat sich an seinen Nachbarn gewandt, auch so ein junger Schnösel, und hat gelacht. Der hat den Namen Phidias bestimmt noch nie gehört. Barbara auch nicht.
Klaus sah an sich hinunter und war bekümmert. Aber dann fing er sich:
Siehe, es weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
dass das Schöne vergeht …
Barbara hörte zu, sagte aber nichts.
Barbara wusste nicht genau, was Klaus meinte. Schönheit und Begehren waren ihr fremd geblieben. Aber sie bemerkte, dass das Leben von Klaus Ziele hatte. Er konnte erfolgreich sein und scheitern, er hatte Phantasien, mit denen er die Zukunft antizipierte, und er hatte Erlebnisse, die er seinem Schatz der Erinnerung hinzufügte. Klaus hatte eine Geschichte und er machte seine Geschichte.
All das hatte Barbara nicht. Sie hatte Symptome. Früher waren es die Speisevorschriften. Heute waren es die Stimmen, die mit ihr sprachen, und ihre Ängste. Diese Zwiegespräche waren anders als die mit Klaus. Es waren keine Neuigkeiten, es war nichts von der Welt, was sie durch die Stimmen erfuhr. Es war auch nicht wie die Liebesangelegenheiten von Klaus. Die verstand sie zwar auch nicht, aber sie spürte, dass darin etwas verborgen war, was zu wissen sich lohnen würde. Die Stimmen waren Barbara selbst, in ihnen traf sie immer nur auf sich.
Was die Begegnungen mit Klaus von anderen Unternehmungen unterschied, war, dass Klaus Barbara für nichts benutzte. Er war ihr zugewandt und doch distanziert. Klaus brauchte Barbara nicht. Seine Sehnsucht nach Liebe und Lust, sein Hass auf die Mutter und seine übergroße Liebe zu ihr, das alles konnte er in immer neuen Variationen in der Szene der schwulen Männer ausleben. Mehr brauchte er auch nicht. Ihn interessierte nichts anderes.
Und die anderen Menschen um Barbara? Was machte Ursula Rein mit ihrem Hass? Was Lothar Rein mit dem Gefühl seiner elenden Nichtigkeit, sein verbissenes Aufbegehren dagegen? Wie verarbeitete Cornelia die Demütigungen? Sie alle hatten gelernt, Gefühle, die in ihrem Leben entstanden waren, in Handlung und gesellschaftliche Realitäten umzuformen. Das erst gab ihnen das Gefühl, dass sie lebten. Aber es blieb doch ein Rest an inneren Widersprüchen.
Barbara hatte kein wirkliches Leben, das irgendwie einen Fortschritt bedeutet hätte. Sie blieb gänzlich auf ihren Gefühlen sitzen und machte daraus Symptome, Karikaturen gesellschaftlicher Prozesse. So vereinigte sie in sich die Widersprüche der anderen. Der Hass der Mutter, das sexuelle Elend des Vaters, die Demütigungen der Schwester, die Selbstzweifel von Lucie, die Ängste von Dr. Hoffmann lebten in Barbara. Das war es, woraus Barbara bestand.


Zum Kapitel 14: Das erste Ende der Geschichte und eine ernste Unterhaltung