12. Meta

Barbara konnte nicht schlafen. Sie ging hinaus auf den Flur, wanderte dort ziellos hin und her. Es war ruhig. Im Schwesternzimmer war gedämpftes Licht. Wahrscheinlich schlief die Nachtschwester. Sie ging in den Tagesraum, aus dem sie gedämpfte Stimmen hörte. Es war ein nackter Raum mit Stühlen, die ohne Ordnung im Raum standen, auf den Tischen volle Aschenbecher. In einer Ecke sah sie den Jonas mit Sylvia auf dem Fußboden sitzen.
Barbara, komm doch her, rief Sylvia leise.
Jonas hatte einen Stapel Zettel in der Hand.
Er liest uns was vor. Fang noch mal von vorne an!
Jonas blätterte zurück und las.
Die folgende Geschichte bis zum Ende des Kapitels ist von Sascha Heine, einem meiner Patienten, der mir die Erlaubnis gegeben hat, sie hier gekürzt abzudrucken. Er hat ihr auch die Überschrift „Meta“ gegeben.
Die Geschichte vermittelt gut, wie schizophrene Menschen oft denken  In der ersten Zeile z. B. schreibt er, dass er aus seinem „Schönheitsschlaf“ geweckt wurde. In dem Zusammenhang erscheint die Verbindung von Schlaf und Schönheit unpassend. Aber er hat damit etwas angesprochen, was uns andauernd passiert, dass wir nämlich Einfälle haben, die nicht in die Situation zu passen scheinen. Wenn er drei Absätze später schreibt, dass er in seiner „31,4 qm Wohnung“ umher wanderte, hat er ähnliches gemacht. Was tut es in dem Zusammenhang zur Sache, dass seine Wohnung nur 31,4 qm misst? Einerseits nichts, aber andererseits doch. Er muss sich damit ständig abfinden.
Jäh wurde ich aus meinem Schönheitsschlaf geweckt. Es war ein Dienstag, der 1. Oktober 2002. 12 Uhr 14 und 5 Sekunden. Für solche Fälle habe ich immer einen Vorschlaghammer neben meinem Bett liegen. Etwas müde griff ich nach ihm und schlug mit aller Kraft auf den Wecker.
„Du Arschloch“, sagte ich wütend.
Ich legte den Hammer wieder an seinen Platz zog mich an: Zuerst die Socke (Die andere lasse ich immer an, um Zeit zu sparen.) Baumwolle. Rot. Mit gelben Streifen. Dann die Unterhose. Braun (war vorher mal weiß.). Dann einen Rock. Grün. Viskose. Und ein T-Shirt. Lila. Acryl. Die Turnschuhe nicht zu vergessen. Blau.
„Geile Treter.“
Ich schaute aus dem Fenster, um abzuschätzen, wie kalt es draußen war. Es sah sehr ungemütlich grau und windig aus, denn ein regelrechter Sturm wehte Hunderte von bunten Blättern hinfort, die plattgedrückt sich hinter der Fensterscheibe pressten und plötzlich wieder verschwanden. Ich runzelte die Stirn.
„Petrus scheint wohl an einer manischen Depression zu leiden.“
Während ich gerade über das nachdachte, was ich soeben sagte, dachte ich darüber nach, welchen Pullover ich anziehen sollte. Nach langem hin und her überlegen, entschied ich mich für den Roten.
„Perfekt.“, sagte ich euphorisch und betrachtete mich von allen Seiten.
Ich fand mich schön, intelligent und charmant.
„Ich bin tausendmal besser als ihr, ihr Missgeburten.“
Befriedigt trank ich den Rest des alten Bieres und holte mir die noch volle Flasche Stroh Rum vom Balkon, diese ich in einem Zuge leer trank. Danach ließ ich einen gigantisch lauten Rülpser, einen extrem stinkenden Furz und suchte meine Schlüssel. Ich fand sie hinter der Kommode; keine Ahnung wie sie dort hingekommen waren. Etwas beschwippst verließ ich meine Wohnung. Nachdem die Tür zuschnappte, fiel mir plötzlich ein, dass ich meine Medikamente vergessen hatte, wie jedes Mal. Ich suchte abermals.
„Wo sind die scheiß Dinger wieder?“
Ich fand das Päckchen Seroquel (ein Neuroleptikum) auf dem Boden, zwischen Müll und Unrat. Als ich nach ihr greifen wollte, kam mir eine Ratte von 3 Metern Länge zuvor. Sie sprang auf die Packung und verbiss sich darin, konnte sie ihr jedoch entreißen. Während ich meine Medikamente an mich nahm, schimpfte ich laut:
„Du doofe Sau. Drecksviech, du.“, und verpasste ihr einen gewaltigen Tritt in den Arsch, so dass sie im hohen Bogen kreischend durch die Balkontür, über das Geländer, hinunter in den Hof flog.
„Hinfort mit dir, du Ungetier.“, dichtete ich.
Genervt steckte ich mir die 2500 Milligramm Quetiapinfumarat (dasselbe wie Seroquel) in den Mund und spülte sie mit einem kräftigen Schluck Jägermeister hinunter.
Gedankenverloren rannte ich in das Erdgeschoss, an der Kellertür vorbei, durch die Tür zum Hinterhof. Als ich die Mülltonne öffnete, kam Oskar, der eine alte Damenbinde auf dem Kopf liegen hatte, zum Vorschein. Oskar lebt schon seit Jahren in Mülltonnen und war stets gut gelaunt und freundlich.
„Hallo, mein Freund, wie geht es dir?“
„Hallo“, sagte ich geistesabwesend. „Hast du nicht letzte Woche noch in der Mülltonne nebenan gewohnt?“
„Stimmt. Die alte war zu klein, außerdem ständig Mieterhöhungen.
Ich machte mich auf den Weg zu Fritten-Heinz, dem besten und einzigen Restaurant hier in dem Viertel. Auf dem Weg dorthin wurde mir die unglaubliche Situation, in der ich mich befand, bewusst und alles kam mir wie ein Alptraum vor.
„Die Welt, in der du lebst, ist nicht Wirklichkeit. Du bist eine Projektion unserer Vorstellungskraft, mein lieber Sascha“, schleusten sie ihre Gedanken in meinen Neokortex.
„Wieso Sascha? Ich bin nicht Sascha.“
„Doooch, der bist du: Du weißt es nur nicht, du Holzkopf.“
Verwirrt betrat ich das Restaurant und Heinz fragte mich, was er für mich tun könne.
„Wie immer.“
„Jo!“, sagte Heinz.
Ich ging zur Kühltruhe, holte mir eine Flasche Reissdorf Kölsch heraus, öffnete sie mit dem Feuerzeug und setzte mich an den Tisch in der Nähe des Fernsehers, der an der Wand montiert war. Während mein Essen zubereitet wurde, hafteten  meine Gedanken an der Behauptung, alles sei ein Traum.
„Wenn ich in einer Traumwelt lebe, sind die Dinge dann überhaupt real?“
„Ich sagte doch eben, dass alles Nichts ist. Der Tisch ist Nichts, deine Gedanken sind Nichts. Und vor allem bist du ein Nichts, mein Freund“, sagte er.
„Die Realität ist eine Illusion.“
Der Gedanke, dass alles Nichts sei, fand ich äußerst beunruhigend.
Eigene Gedanken werden zu Wirklichkeit. Das aber macht die Wirklichkeit unsicher. Was ist Phantasie, was Realität?
„Und von wem werde ich geträumt? Ich meine, wer seid ihr?“, sinnierte ich.
„Wir sind Gott, du elendiger Bastard, du schwachsinniger Vollidiot, ans Kreuz sollte man dich nageln.“
„Niemals!“, brüllte ich, sodass Heinz erschrak und meine Currywurst mit Pommes fallen ließ.
Inzwischen war es schon dunkel geworden, darum machte ich mich auf den Weg nach Hause. Dort angekommen, nahm ich eine Rohypnol (ein starkes Schlafmittel), entkleidete mich (bis auf die Socke) und legte mich in mein Bett. Ich schlief ziemlich bald ein und träumte. Ich träumte von einem Mann namens Doktor Sevenich.
Von hier an geht die Geschichte als die Geschichte des Dr. Sevenich weiter. Zwei Personen vermischen sich, Traum und Wirklichkeit sind nicht getrennt.
Er wachte aus seinem erholsamen, traumlosen Tiefschlaf auf. Es war der 31.12.2001, 6 Uhr 30 und 13 Sekunden. Er liebte das morgendliche Frühstück. Als er fertig war, duschte er sich, putzte seine Zähne, zog seine Motorradbekleidung an, verließ das Haus und fuhr mit seiner Yamaha zu seiner Arbeitsstelle, die psychiatrischen Anstalt in Porz-Ensen. Um Punkt 17 Uhr hatte er Feierabend, worauf er sich mit seinem Motorrad auf den Heimweg machte. Zu Hause angekommen, stellte er das Gefährt an seinen vorgesehenen Platz, schloss es ab und ging zur Haustür des Mietshauses, in dem er wohnte.
Als der ahnungslose Arzt seine Wohnung betrat, dachte er an eine seiner Neuzugänge der geschlossenen Abteilung. Es handelte sich um einen 19 Jahre alten Jugendlichen mit dem Namen Hubertus H. Er sagte aus, er höre kommentierende Stimmen, seien aber nicht imperativ. Darüber hinaus klagte er über starke Stimmungsschwankungen.
Der noch unerfahrene Doktor Sevenich glaubte jetzt zu wissen, wo das Problem Herrn H.‘s lag. Es schien, so meinte er, sich um eine ziemlich intelligente und gebildete Person mit philosophischen Ambitionen zu handeln, dessen Wissen, das er sich aneignete, ihm jetzt zum Verhängnis wurde, da er es zu einer Wahnidee bis ins letzte Detail durchkonstruierte. Aber dies sei mittels einer neuroleptischen Therapie mit Haloperidol wahrscheinlich gut in den Griff zu bekommen.
„Sevenich ist ein Holzkopf. Sevenich ist ein Holzkopf. Sevenich ist ein Holzkopf.“
Der junge Arzt hob den Kopf, er hatte seine Augen während des Nachdenkens die ganze Zeit auf den Brief den Patienten gerichtet, und lauschte. Er hörte das Ticken der Uhr und das Rauschen des Verkehrs. Darüber hinaus nahm er aber noch etwas anderes wahr: Eine etwas ständig wiederholende Stimme. Kaum hörbar, doch war da etwas. Es war ihm jedoch nicht möglich, die Worte zu verstehen.
„Nachbarn“, dachte er.
Der Patient, so mutmaßte er wieder, habe eine wissenschaftliche Gabe und unausgeschöpfte Ressourcen, die in der Therapie gefördert werden müssten. Er war etwas neugierig auf seinen Intelligenzquotienten, besonders den des deduktiven Bereiches.
„Sevenich ist ein Holzkopf. Sevenich ist ein Holzkopf. Sevenich ist ein Holzkopf. Sevenich ist ein Holzkopf. Sevenich ist ein Holzkopf. Sevenich ist ein Holzkopf.“
Nochmal richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Akustik des Raumes. Die Stimme war jetzt etwas lauter und er vernahm eindeutig seinen Namen.
„Was soll das? Wieso sprechen die ständig meinen Namen?“
Die Nachbarn des Herrn Sevenich waren eine gutbürgerliche Familie mit zwei Kindern. Der Vater war Steuerberater, die Mutter eine Lehrerin des Hansa-Gymnasiums. Er war sich sicher, dass die Kinder ihm einen Streich spielten. Er bestieg das Sofa, hing den Kunstdruck von August Macke ab und legte sein Ohr an die Wand, was ohne Erfolg blieb. Die restlichen Worte blieben unverständlich. Nachdem er von seinem Sofa wieder kletterte, begann die Stimme jetzt deutlich hörbar zu werden: „Sevenich ist ein Holzkopf. Sevenich ist ein Holzkopf. Sevenich ist ein Holzkopf. Sevenich ist ein Holzkopf. Sevenich ist ein Holzkopf.“
Der Arzt erschrak, als er die übrigen Worte des Satzes verstand.
„Was bilden sich die Plagen eigentlich ein. Die spinnen wohl.“
Wütend klingelte er bei den Hoffmann’s und die Mutter der beiden Kinder öffnete.
„Es ist ein Unding, was die Kinder sich da leisten. Ich dachte eigentlich, sie hätten sie gut im Griff, aber da täusche ich mich wohl.“, sagte er wütend. Sein Gesicht verzog sich zu einer aggressiven Grimasse.
„Herr Doktor, was meinen sie. Helene ist mit ihrer Freundin unterwegs und Elia seit Montag auf Klassenfahrt. Geht es ihnen nicht gut, sie haben Schweißperlen auf der Stirn.“
„Das kann nicht sein. Ich hör sie doch reden. Immerzu diesen Satz. Ich kann nicht verstehen, dass sie diesen Unfug noch unterstützen und sie decken.“
„Also, ich kann absolut nichts hören. Sie können sich gerne …“
Er schob die Hoffmann auf Seite und stürmte ins Wohnzimmer, doch dort war Nichts. Dann hastete er ins Kinderzimmer, dem angrenzenden Raum seines Wohnzimmers, doch es war niemand da.
Er ahnt, dass die Stimmen in seinem Kopf entstehen. Aber das will er nicht glauben und hofft, dass sich alles auf natürliche Weise aufklären wird. In dieser Situation sind vieler Menschen mit einer Schizophrenie. 
„Ich sagte doch eben …“
„Hören Sie das denn nicht. Das kommt ja überall her.“
„Was hören?“
Der Arzt blickte in ihr fragendes Gesicht.
„Na das.“
Er wagte es nicht auszusprechen.
„Ich hör echt nichts. Gehen sie jetzt bitte. Mein Mann kommt gleich nach Hause und ich muss noch Abendessen machen.“
Er schüttelte verwirrt den Kopf und ging zurück in seine Wohnung.
„Hallo Sevenich. Hier bin ich.“, sagte eine Männerstimme. „Hier im Schrank.“
Sie kam jetzt tatsächlich aus dem Schrank, in dem er Aktenordner stehen hatte. Er riss sie aus den Regalen und suchte nach einem Funkgerät oder einem Lautsprecher. Aber er fand nichts.
„Ich bin im Schlafzimmer, unter dem Bett.“
Er ging ins Schlafzimmer und suchte alles ab, doch es fand sich wieder nichts.
„Schau dir das mal an. Er ist total verrückt geworden.“, sagte der Mann.
„Ich seh’s. Der arme Herr Doktor braucht dringend Medikamente. Die Psychose ist mit Haloperidol! wahrscheinlich gut in den Griff zu bekommen.“, sagte eine Frau.
„Das dürfen wir nicht zulassen. Dann sterben wir doch. Es ist gerade so lustig.“
„Hallo. Wer seid ihr?!, rief Sevenich.
„Wir sind deine Einbildung, du Holzkopf.“
„Was?“, stotterte er.
„Du bist soeben an einer paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie erkrankt, herzlichen Glückwunsch.“
„Ich glaube, es ist das beste, wenn ich in die Klinik gehe.“, dachte Sevenich.
„Soweit kommst du nicht. Ich werde jetzt Stufe zwei starten. Die dritte wird tödlich für dich sein. Es tut mir leid, dass es soweit kommen muss, aber so ist es vorherbestimmt.“
„Wie meinen sie das?“
„Schau her.“
In diesem Moment schaltete sich der Fernseher ein, er war auf standby geschaltet. Auf dem Bildschirm erschien ein Nachrichtensprecher der „Tagesthemen“ und berichtete von einem Selbstmord eines jungen Psychiaters. Er sei, ohne Vorwarnung, aus 50 Metern eines Wohnhauses gesprungen, wodurch er sich einen tödlichen Wirbelsäulenbruch zuzog.
„Ich muss hier raus.“
Ohne sich Schuhe anzuziehen, verließ er die Wohnung. Im Hausflur der 4. Etage versammelte sich die ganze Mieterschaft der Krefelderstraße 7, allesamt >>Sevenich ist ein Holzkopf<< rufend.
„Oh, mein Gott. Das ist ja eine Verschwörung.“, stammelte er und brach in Tränen aus. Der Arzt musste sich durch die 23 Menschen starke Versammlung zwängen, denn sie versperrten seinen Weg. Doch irgendwie schaffte er durch zu kommen. Er rannte, so schnell er konnte, die Treppen herunter und verließ das Haus. Er stand kurz vor dem Nervenzusammenbruch.
„Darf ich jetzt das dritte Programm starten?“
„Ja.“
Sevenich ging schnellen Schrittes Richtung Hansaring. Er wollte sich unverzüglich in die Klinik begeben, denn er meinte, dort sicher zu sein. Auf dem Weg dort hin bemerkte er, wie er von den Passanten seltsam angeschaut wurde; eine Person mit einem dunkelblauen Pullover mit der Aufschrift >>Genius<< lachte ihm sogar höhnisch ins Gesicht.
„Sevenich. Du wirst jetzt tun, was ich dir sage.“
Er blieb abrupt stehen und sagte nach etwa zehn Sekunden: „Ja, das werde ich.“
„Auf der rechten Seite, wo das anthrazitfarbene Auto parkt, befindet sich eine Haustür. Sie ist offen. Dort wirst du jetzt hingehen!“
Er sah das Auto, es stand am Eingang eines Hochhauses. Er ging dorthin, öffnete die Tür und betrat das Haus.
„Was jetzt?“
„Benutze den Aufzug und fahre in den 20. Stock!“
Ohne zu überlegen tat er dies. Dort angekommen, fragte er: „Und nun?“
„Du gehst jetzt zur Tür der Familie Aydogan! Sie ist nicht zuhause. Trete sie ein!“
„Jawohl.“
Er nahm etwas Anlauf und trat die Tür ein, wie ihm gesagt wurde.
„Öffne das Schlafzimmerfenster!“
Ohne eine Spur von Angst öffnete er das Fenster.
„Was nun, Herr?“
„Spring hinunter!“


Zum Kapitel 13: Gibt es eine Lösung für die Schizophrenie?