11. In der Psychiatrie

Als Barbara aufwachte, war es schon hell. Der Lärm auf dem Flur hatte sie geweckt. Barbara sah zu den beiden anderen Betten in ihrem Zimmer. Eine der Frauen schnarchte, die andere atmete tief. Barbara zog die Bettdecke bis an das Kinn und wartete. Die Geräusche von draußen nahmen zu. Leute liefen hin und her, Türen wurden in rascher Folge auf und zu gemacht. Dazwischen waren Schritte zu hören, die immer näher kamen.
Eine Frau im weißen Kittel steckte den Kopf durch die Tür:
Aufstehen! Sieben Uhr. Die Augen der Frau in Weiß wanderten über die Betten. Es waren strenge Augen, aber aufmunternd, nicht böse.
Frau Landmann, Frau Riebock, Frau Rein aufstehen! Sehr laut sagte sie es und trat in das Zimmer.
Die beiden Frauen regten sich. Ja, ja.
Die Frau im weißen Kittel zog ab.
Barbara guckte über den Rand der Bettdecke.
Was waren das für Menschen, unter die Barbara geraten war? Die eine, die so laut geschnarcht hatte, war sehr dick und dabei noch jung. Sie schlurfte über den Boden, beide Hände vor sich haltend, als trüge sie ein Tablett. Sie lief ständig in dem kleinen Zimmer hin und her.
Diese junge Frau bekommt Psychopharmaka, und zwar Neuroleptika. Die stellen ruhig, dämpfen vor allem die Gefühle und führen darum zu einem Rückgang der schizophrenen Symptome. Aber sie haben auch erhebliche Nebenwirkungen, die alten Medikamente in erster Linie muskuläre Verspannungen, die neueren oft Gewichtszunahme.
Als die junge Frau sah, dass Barbara wach war, fing sie gleich an zu reden.
Ich heiße Franziska. Wie heißt du? Ohne die Antwort, die Barbara murmelte, abzuwarten, fuhr sie fort:
Ich bin jetzt schon fast zwei Monate hier, aber ich will bald nach Hause. Meine Mutter sagt auch, dass ich bald nach Hause kann. Ich muss noch Medikamente nehmen, aber bestimmt nicht mehr lange. Warum bist du hier? Wenn ich Ausgang kriege, können wir zusammen in die Cafeteria gehen. Das ist Frau Riebock, die hat eine Depression.
Währenddessen zog sie ihren Schlafanzug aus, lief nun völlig nackt weiter hin und her und zog sich dann an. Unterwäsche, Jeans, ein T-Shirt, alles schon etwas fleckig. Sie nahm die Zahnbürste und einen Kamm und ging hinaus.
Franziska benimmt sich wie ein kleines Kind. Das kann Folge der schizophrenen Störung, aber auch eine Nebenwirkung der Neuroleptika sein.
Wo ist das Badezimmer? fragte Barbara schüchtern die andere, die etwas älter schien und die liegen geblieben war. Nach einer Weile bekam sie die Antwort:
Draußen.
Beim Frühstück saß Barbara mit anderen Patienten zusammen. Es gab nur wortkarge Unterhaltungen. Keiner nahm von ihr besondere Notiz. Aber sie gehörte dazu. Jeder duzte sie.
Die Patienten trafen sich nach dem Frühstück in einem großen Raum. Vom Personal machte Barbara die Krankenschwester von heute morgen aus. Der dunkle, ernst schauende Mann, der kaum ein Wort sagte, schien Arzt zu sein. Sie wurde freundlich von der Krankenschwester in der Runde begrüßt.
 Wollen Sie uns etwas von den Problemen sagen, die Sie hierher gebracht haben?
Barbara schrak auf. Was sollte sie von sich sagen?
Von der Polizei bin ich gestern Abend hierher gebracht worden.
Das schien zu passen. Jedenfalls waren alle zufrieden. Der, der Arzt zu sein schien, nickte. Barbara bekam gar nicht richtig mit, was man da noch zu ihr sagte. Aber hätte sie mehr Übung darin gehabt, hätte sie bemerkt, dass auch etwas lauerndes in der Haltung des Personals lag.
Wie wenn ich gar keine Probleme hätte, dachte sie in einem Anflug von Übermut.
Und eigentlich habe ich doch auch gar keine Probleme. Die Probleme haben die anderen mit mir. 
Barbara war halb aufmerksam, halb hing sie ihren Gedanken nach. Sie verstand nicht ganz, was passierte. Die anderen Patienten wollten ihre Angelegenheiten regeln, Ausgang, Entlassung, Besuche. Aber wozu? Was gab es zu besprechen, wenn jemand gehen wollte? Man war doch nicht im Gefängnis. Gefängnis? Barbara erschrak. Sie realisierte, dass sie nicht mehr Herr des Geschehens war. Später überzeugte sie sich davon, was sie bei ihrer Einlieferung nur ungefähr mitbekommen hatte: Die Tür der Station war abgeschlossen, Bedienstete schlossen sie auf und schlossen sie zu, Patienten mussten schellen, wenn sie herein wollten, und an der Tür des Stationszimmers warten, dass man ihnen aufschloss, wenn sie hinaus wollten.
Ärzte können einen Menschen auch gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik einweisen und dort festhalten, wenn sie wegen ihrer seelischen Krankheit eine Gefahr für sich oder andere darstellen. Das muss aber ein Richter überprüfen und genehmigen. Dafür haben die psychiatrischen Krankenhäuser eine geschlossene Station. Auf einer solchen befindet sich Barbara. Formal gesehen ist sie freiwillig dort, obwohl sie eigentlich nicht will.
Selbst wenn es ausreichend geschultes Personal gibt, so dass die Patienten in Gesprächen mit Psychologen oder Ärzten ihre Probleme besprechen können, mehr als eine Stunde pro Tag wäre nicht zuträglich. Darum liegt es nahe, das Stationsleben mit den Patienten gemeinsam zu gestalten. Dafür gibt es in vielen psychiatrischen Krankenhäusern Gesprächsrunden, in denen die Patienten alle wichtigen Dinge des Stationslebens miteinander und dem Personal klären können. Lebensschule könnte man das nennen. Die Schwierigkeit besteht darin, die Sache so zu machen, dass sich die Patienten nicht wie im Kindergarten vorkommen, sondern ernst genommen fühlen.
Was nun? dachte Barbara. Sie stand auf dem Flur. Raus konnte sie nicht. Sie hätte es ausprobieren können, einfach jemanden bitten, ihr aufzuschließen und einfach nach Hause gehen oder sonst wohin. Aber das traute sie sich nicht. Eine der Krankenschwestern wies sie an, ihr Bett zu machen. Das war wie ein Geschenk. Wenigstens eine Aufgabe. Sie beeilte sich, sie auszuführen. Aber dann war das erledigt, und sie fragte sich wieder, was nun? Unschlüssig wanderte sie über die Station. Sie ging in das Zimmer, in dem sie ihr Bett hatte. Frau Riebock lag schon wieder. Sie schlief nicht, sondern lag da, ausdruckslos und nahm anscheinend keine Notiz von Barbara. Aber Barbara fühlte sich dennoch beobachtet.
Die Empfindungen von Barbara sind typisch für viele Patienten dort.
Wie ein Krokodil, das wie tot daliegt und dann plötzlich zuschnappt, dachte sie. Barbara hielt es nicht aus und ging wieder über die Station. Man konnte fernsehen. Was gerade lief, interessierte sie nicht. Es saß auch keiner vor dem Apparat. Aber sie wagte nicht, einen anderen Sender einzustellen.
Wie es schien, musste man sich hier nicht einmal anständig benehmen. Viele rochen ungewaschen, hatte schmutzige Sachen an und kaum einer sagte Guten Tag. Sie beobachtete einen Patienten, der auf den Boden spuckte. Barbara schüttelte sich. Gute Manieren hatte man ihr zu Hause beigebracht und sie legte Wert darauf.
Ein solches Benehmen muss nicht sein, wenn das Personal Zeit hat, darauf zu achten.
Sie beobachtete Franziska. Immer wenn jemand durch die Tür auf die Station kam, lief Franziska auf ihn zu.
Kann ich eine Zigarette haben?
Kann ich mit Ihnen raus gehen?
Wenn es jemand vom Stationspersonal war:
Kann ich Ausgang haben?
Wann werde ich entlassen?
Man hatte nicht den Eindruck, als ob irgendeine dieser Fragen ernsthaft auf eine Antwort oder Reaktion abzielte. Und doch gab es hinter diesem kindischen Verhalten der jungen Frau etwas, was Barbara anrührte.
Hinter einem solchen albern erscheinenden Benehmen ist immer ein ernstes Problem verborgen. Aber es ist schwer zu klären, welches, weil auch Franziska keine Antwort darauf wüsste. Meistens liegt man richtig, wenn man das, was als störend empfunden wird, als die Botschaft betrachtet. Im Fall von Franziska würde das bedeuten, dass ihr infantiles Benehmen nicht ein Störfaktor, sondern die Botschaft ist, also etwa in dem Sinne: „Ich bin unfähig die einfachsten Dinge zu tun, wenn ich nicht Anleitung dabei bekomme. Wenn ich euch damit auf die Nerven gehe, so darum weil mich das auch stört. Ich möchte etwas erwachsener sein, aber ich kann es nicht, aus Gründen, die ich auch nicht verstehe.“ Man müsste darum versuchen, heraus zu bekommen, was Franziska daran hindert, erwachsener zu werden. Am Ende dieses Kapitels werden wir einige Hinweise dafür bekommen.
Barbara war nervös. Sie konnte sich nicht mit ihren üblichen Gedanken an das Essen ablenken. Das kannte sie nicht. Das war neu. Interesse konnte man es noch nicht nennen. Aber es war schon Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeit für das, was um sie herum geschah. Zu Hause, wo sie vieles hätte tun können, saß sie oft stundenlang wie entrückt auf einem Stuhl. Hier, wo das ihre Tagesbeschäftigung werden sollte, machte es sie unruhig.
Jemand vom Personal kam auf sie zu.
Frau Rein? Heute Nachmittag will Ihre Mutter kommen und Kleider bringen.
Nach dem Mittagessen wurde sie gerufen. Der dunkelhaarige Mann, den sie in der morgendlichen Runde gesehen hatte, war tatsächlich der Stationsarzt, Dr. Schamadan.  Er stammte aus einem orientalischen Land. Sie bemerkte, dass er noch Mühe mit der deutschen Sprache hatte. Sie fand ihn sympathisch.
Dr. Schamadan bat Barbara in sein Zimmer und fragte sie aus. Er war nett zu Barbara. Ob sie schon mal krank gewesen sei, ernstlich krank? Als sie verneinte, fragte er noch einmal genauer nach: krank an Lunge, Herz, Leber etc.? Nein, war sie nicht. Er fragte nach den Narben am Unterarm, wie die zustande gekommen wären, er fragte nach Medikamenten, nach Fressanfällen, Gewichtskontrolle usw.
Was ist passiert auf Brücke? Warum wollten Sie springen? Sie sind auf Gelände geklettert. Warum?
Ich bin nicht auf das Gelände gestiegen, log Barbara. Ich wollte nur weggehen. Ich wollte mich nicht umbringen, was keine Lüge war.
Schließlich untersuchte er sie und entnahm ihr Blut.
Für Labor, wie er erklärte.
Dann war Barbara wieder auf dem Flur und wusste wieder nicht, was sie tun sollte. Aber es verging keine Stunde, da wurde sie erneut in das Zimmer von Dr. Schamadan gerufen. Jeder neue Patient der Station wurde einem der Oberärzte, Herrn Dr. Hoffmann oder seiner Kollegin vorgestellt. Da der Chef der Klinik schon beinahe das Pensionsalter erreicht hatte, überließ er viele seiner Aufgaben Herrn Dr. Hoffmann, der faktisch die Klinik leitete.
Was die Patienten betraf, vertrat Dr. Hoffmann die Ansicht, dass sie krank seien und darum Anspruch auf eine differenzierte Therapie hatten. Er gab sich große Mühe bei der Diagnosestellung. Krankheit war für ihn immer ein körperlicher Zustand, das war für ihn als Arzt selbstverständlich. So ging er wie viele seiner Kollegen davon aus, dass alle schweren psychischen Störungen durch eine Krankheit des Gehirns verursacht seien – wenn diese Krankheiten in den meisten Fällen auch noch nicht bekannt waren.
Weil sie sich dann nicht mit ihrer Lebensgeschichte auseinandersetzen mussten. Diese Grundüberzeugung ist bestimmt für viele Patienten und ihre Angehörigen entlastend. Darum schätzen viele Patienten die konsequente Weigerung mancher Ärzte, psychische Störungen als Ausdruck einer missglückten Lebensgeschichte anzusehen.
Mit bei der Vorstellung war noch Frau Gluck, die Stationsschwester, die sich während der Oberarztvisite Notizen machte. Herr Dr. Schamadan berichtete:
Frau Rein wurde gestern Abend nach Suizidversuch aufgenommen. Sie ist erste Mal in klinische psychiatrische Behandlung. Patientin hat auf Eisenbahnbrücke gestanden, mit der Absicht zu springen. Passanten haben sie gehalten und Polizei gerufen. Polizei hat sie zu uns gebracht. Eltern haben erzählt, dass Frau Rein einen Brief geschrieben hat, sich umzubringen.”
Ich wollte mich nicht umbringen, warf Barbara ein.
Das glauben wir Ihnen. Lassen Sie aber erst mal den Stationsarzt erzählen, meinte Dr. Hoffmann freundlich.
Barbara fügte sich.
Frau Rein ist 28 Jahre alt und lebt bei Eltern. In der Anamnese gibt es keine körperlichen Krankheiten. Meine Diagnose lautet Borderlinestörung. Und dann erzählte er dem Oberarzt noch eine Menge, was Barbara aber wegen der vielen Fremdwörter – medizinische Fachausdrücke, wie sie vermutete – nicht verstand, offensichtlich auch nicht verstehen sollte. Sie bekam aber so viel mit, dass er meinte, sie habe eine Depression. Die Bulimie und dass sie sich geschnitten hatte, schien auch wichtig zu sein
Sie sagten, sie hatten nicht die Absicht gehabt, sich umzubringen, wandte sich Herr Dr. Hoffmann direkt an Barbara.
Ja, ich habe nur geschrieben, dass ich nicht mehr nach Hause zurück wollte.
Aber Sie haben doch auf der Brücke gestanden und wollten springen oder dachten zu springen, wandte der Oberarzt ein.
Ich wollte wissen, wie es ist, wenn ich springen würde. Aber ich hätte nie den Mut dazu und ich hatte auch gar nicht die Absicht.
Nach einer Pause, in der keiner etwas sagte: ”Kann ich dann nach Hause gehen?
Ich glaube, dass es eine ernste Sache für Sie war, auch wenn Sie wirklich nicht an Selbstmord dachten, entgegnete der Oberarzt. Wie geht es Ihnen denn heute?
Gut, sagte Barbara.
Haben Sie sich in letzter Zeit öfter verstimmt gefühlt, so dass Sie zu gar nichts Lust hatten?
Ja schon, sagte Barbara.
Können Sie uns sagen, seit wann das so ist? wollte Dr. Hoffmann  wissen.
Schon lange. Ich kann das nicht so genau sagen.
Und Selbstmordgedanken, kennen Sie die?
Nein, log Barbara.
Wie ist es denn mit dem Antrieb. Konnten Sie in den letzten Wochen und Monaten gut arbeiten? Na ja, Sie waren ja nicht berufstätig. Haben Sie Ihre Sachen erledigt?
Ja, meistens schon, antwortete Barbara, wusste aber nicht so genau, was der Oberarzt  meinte.
Er fragte nach dem Appetit, nach der Verdauung, dem Schlaf, der Regelblutung. Er wollte wissen, ob Barbara schon mal Zeiten hatte, in denen sie sich besonders gut gefühlt hatte, welchen Schulabschluss sie hatte, ob sie in letzter Zeit irgendwelche körperlichen Beschwerden hatte, und schließlich fragte er sie, dabei wirkte er fast ein bisschen verlegen, ob Barbara schon mal Stimmen gehört hätte. Barbara antworte auf all das wahrheitsgemäß, mehr weil es ihr unwichtig vorkam.
Wenn Barbaras Verhalten als Ausdruck einer Krankheit betrachtet wird, dann braucht man dafür eine Diagnose. Der Oberarzt dachte, anders als Barbara, nicht an Konflikte und Beziehungsprobleme mit den Eltern, sondern in medizinischen Kategorien. Er war, wie viele Ärzte, der Überzeugung, dass das Verhalten von Barbara Folge einer Krankheit war, die im Gehirn lokalisiert ist. Am ehesten kam für ihn eine Depression in Frage. Darum fragte er sie genauer nach den Symptomen einer Depression. Barbara ihrerseits spürte, dass Selbstmordgedanken für den Arzt ein Grund gewesen wäre, sie länger in der Klinik festzuhalten.
Am Ende fragte Barbara  ganz kühn: Und was geschieht jetzt?
Es ist bestimmt besser, wenn Sie einige Zeit bei uns bleiben. Wir werden einen Behandlungsplan für Sie entwerfen, entgegnete der Oberarzt. Er schien befriedigt und lächelte Barbara zu, als ob sie gemeinsam eine schwierige Aufgabe glücklich zu Ende gebracht hätten.
Barbara registrierte, dass sie also krank war. Einerseits beruhigte sie das. Andererseits dachte sie:
Wieso bin ich krank?
Am späten Nachmittag kam Frau Rein, um ihrer Tochter Wäsche, Toilettenartikel und ein paar Bücher zu bringen. Sie habe schon früher kommen wollen, aber am Telefon habe man ihr gesagt, sie solle nicht so früh kommen, da noch eine Reihe von Untersuchungen vorgesehen seien. Am Nachmittag seien auch Handwerker zu Hause gewesen. Das Dach über der Terrasse vor dem Wohnzimmer werde abgerissen. Da komme ein neues Glasdach hin. Man wolle möglichst schnell mit dem Stationsarzt, besser noch mit dem Oberarzt sprechen. Darum war der Vater mitgekommen.
Aber der Besuch der Eltern war ungemütlich. Barbara sollte die Station nicht verlassen, so musste man sich in den Flur setzen. Barbara  wurde zweimal weggerufen. Einmal sollte sie ein Formular unterschreiben, dann schickte man sie zum EEG:
Ableitung der Hirnströme, erklärte eine junge Krankenschwester.
Weder mit dem Stationsarzt noch mit dem Oberarzt war ein Besprechungstermin möglich. Das machte die Eltern  missgelaunt. Aber weder sie noch Barbara stellten in Frage, dass Barbara auf der Station bleiben würde. Die Mutter erläuterte, was mitgebracht hatte und dass sie täglich, wenigstens alle zwei Tage kommen würde, um Barbara zu besuchen. Wenn ihr die Handwerker nicht einen Strich durch die Rechnung machen würden. Die schmutzige Wäsche könne ihr Barbara mitgeben. Cornelia würde bestimmt in den nächsten Tagen auch einmal vorbei kommen. Die Eltern umarmten Barbara zum Abschied. Nach der Brücke hatte sie nicht gefragt, auch keine Frage danach, was denn mit dem Brief eigentlich gemeint war.
Dann kam das Abendessen. Danach war es irgendwie geselliger auf der Station. Patienten sprachen sie an. Aber Barbara hielt sich zurück. Eine Krankenschwester kam auf sie zu und forderte sie auf, einige Tabletten zu nehmen. Wozu? dachte Barbara, nahm sie aber.
Der nächste Tag war langweiliger als der erste. Es gab ja keine Untersuchungen. Barbara wartete sehnsüchtig auf den Besuch der Mutter und lungerte auf der Station herum. Sylvia kam auf sie zu. Die hatte sie am Vortag schon gesehen, aber da war die etwa gleichaltrige junge Frau immer an ihr vorbei gegangen. Jetzt strahlte sie Barbara an.
Du bist zum ersten Mal in der Klapse, was? Man gewöhnt sich dran. Nachher ist es sogar besser als anderswo.
Sie erklärte ihr, welcher Pfleger besonders nett, welcher faul, welche Schwester grob war, was man der Oberärztin  sagen musste, wenn man Ausgang haben wollte oder weniger Medikamente.  
Du musst ihnen sagen, wie gut sie sind. Du musst über deine Stimmen reden. Ach, du hast ja keine. Wahrscheinlich schneidest du dich. Da ist es anders. Das können sie nicht leiden. Besonders die Psychologen können kein Blut sehen. Die können auch keine gesunden Patienten leiden. Sylvia lachte.
Es gibt in psychiatrischen Kliniken immer Strukturen der Patienten, die das Personal überhaupt nicht mitbekommt, die aber für die seelische Hygiene der Patienten entscheidende Bedeutung haben. Sie können so Reste ihrer Autonomie wahren.
Barbara staunte, als sie Sylvia so reden hörte. Die fuhr fort:
Manche kiffen hier auf der Station. Habe ich früher auch gemacht, aber jetzt nicht mehr. Wenn du was haben willst, der Jonas glaube ich, der mit den Ohrringen, der hat Gras. Der hat auch ein Handy, obwohl das hier verboten ist. Er lässt dich auch telefonieren. Er kann auf dem Handy sehen, wie viel Gebühren das kostet, und das musst du ihm bezahlen. Ich glaube er macht das so, dass er daran verdient. Der Jonas ist manchmal nachts auf. Die Nachschwester mit dem Dutt, die schläft schon mal in der Nachtschicht. Da kann man sich gut treffen, muss aber leise sein.
Wie lange muss man denn hier bleiben? fragte Barbara schüchtern. Sylvia lachte wieder.
Ich weiß ja nicht, was du hast. Du schneidest doch, oder?
Ja, schon,  gab Barbara zu.
Die bleiben hier nicht lange. Die letzte haben sie fast die ganze Zeit fixiert. Die hat sich fast in Stücke geschnitten. Dann haben sie sie mit Medikamenten voll gepumpt, dass sie nicht mehr Piep sagen  konnte. Die ist auf allen Vieren aufs Klo gekrochen und hat sich da mit einer Scherbe den Arm geschnitten. Die hat sich auch schon mal auf den Boden geworfen und nicht mehr geatmet. Wie sie das gemacht hat, weiß ich nicht. Das könnte ich nicht.
Das wusste Barbara wieder besser. Einfach lange genug tief und schnell in der Hocke durchatmen und dann schnell aufstehen.
Dann ist ihr Freund zu Besuch gekommen und hat ihr was gesagt. Danach hat sie sich zwei Tage ganz normal benommen, und die hier sind froh gewesen, dass sie sie entlassen konnten. Wenn eine wie du schnell entlassen werden will, musst du sie ein paar Tage ärgern und dann sagen, jetzt sei wieder alles normal. Du lässt dann alles, und sie können dich als gesund entlassen.
Dann fügte sie hinzu:
Bei mir ist das anders, ohne zu erklären, was sie damit meinte.
Nachmittags kam die Mutter. Dr. Schamadan hatte Barbara erlaubt, mit ihr eine halbe Stunde spazieren zu gehen. Das Wetter war schön, so gingen sie durch den Park, der zur Anstalt gehörte.
Als die Mutter Barbara an der Stationstür wieder ablieferte, wurde Barbara eilig von der Krankenschwester durch die Tür gezogen, so dass sich die Mutter kaum verabschieden konnte. Aus einem Zimmer hörte man lautes Gebrüll. Es polterte und dazwischen laute Schreie von Männern und Frauen. Die Patienten auf den Gängen taten so, als hörten sie nichts oder feixten.
Ihr Schweine! Ihr dreckigen Schweine! hörte Barbara. Pfleger kamen auf die Station gerannt, dann eine Schwester mit einem Tablett, auf dem allerlei medizinisches Zeug lag. Sie verschwanden in dem Zimmer. Nach einer Weile wurde es ruhiger. Schwestern und Pfleger kamen nacheinander heraus und gingen in den Personalraum. Schließlich kam auch Dr. Schamadan und schloss langsam die Tür hinter sich.
Eine halbe Stunde später war nichts mehr von der Aufregung zu spüren.
Was in Krankenhäusern ansonsten die lebensbedrohlichen Zustände sind, das sind in psychiatrischen Kliniken solche aggressiven Entladungen einzelner Patienten.
Am nächsten Tag lernte Barbara den Mann kennen, der so gebrüllt hatte. Es war Franz, ein Alkoholiker, der im Rausch von der Polizei in Handschellen eingeliefert worden war. Heute war er kleinlaut und katzbuckelte vor dem Personal, was die Patienten mit Verachtung registrierten. Er war verschwitzt und zitterte wie Espenlaub. Aber er bekam Medikamente und dadurch ging es ihm besser.
Franz hatte Entzugssymptome.
In den folgenden Tagen gab es einen  Gesprächstermin der Eltern bei Dr. Schamadan. Die Eltern machten einen entspannten Eindruck. Die Erwartung an den Arzt war in ihr Gesicht geschrieben. Die Sache mit Barbara hatte ja eine überraschende Wendung bekommen. Eigentlich hätte man eher darauf kommen sollen: Für die Probleme von Barbara gab es Ärzte und Spezialkliniken. Der Arzt begrüßte die Eltern höflich und wies darauf hin, das er noch nicht viel zur Diagnose und zur Therapie sagen könne. Barbara sei ja schließlich erst ein paar Tage in der Klinik. Man müsse sie beobachten. Die Untersuchungsergebnisse seien auch noch nicht alle da, und die Beratung mit dem Oberarzt  sei wegen der Kürze der Zeit gerade bis zur Vorstellung von Barbara gediehen. Über die vorläufige Diagnose könne er aber schon etwas sagen: Borderlinestörung mit Depression. Deswegen sei ein Antidepressivum schon angesetzt. Die bisherigen Laboruntersuchungen, auch das EEG, haben keinen pathologischen Befund ergeben.
Die Eltern hatten Verständnis. Dass man in so kurzer Zeit nicht allzu viel erwarten durfte, leuchtete ihnen ein. Das lange zurück gehaltene Bedürfnis, selbst zu erzählen, brach jetzt durch. Barbara hatte ihnen so viel Kummer gemacht.
Wir haben uns immer gefragt, was machen wir wohl falsch? Ich habe Nächte lang nicht schlafen können, erklärte die Mutter.
Man kann ja mit keinem darüber reden. Wenn ich jemanden gehabt hätte, der mich aufklären konnte… Jetzt wird einem erst so manches klar. Es gibt so vieles, das für Sie vielleicht interessant ist und das Ihnen bei der Diagnose hilft. Man denkt ja gar nicht daran, dass es eine Krankheit sein könnte. Barbara war immer schon anders. Ihre Schwester ist ganz normal. Zuerst darüber nachgedacht habe ich, als Barbara eine Zeit lang wieder ins Bett machte und später, als sie so komische Geschichten im Kindergarten erzählt hat. Die Sachen stimmten gar nicht. Die Schwierigkeiten mit dem Essen kamen nach der Pubertät.
Hier sagt es die Mutter ganz deutlich, dass sie entlastet ist, wenn es sich bei Barbara um eine Krankheit handelt.
Welche Schwierigkeiten mit dem Essen? wollte Dr. Schamadan genauer wissen. Die Mutter erklärte es. Dann fragte der Arzt nach dem sogenannten Abschiedsbrief. Die Mutter hatte ihn bei sich und konnte ihn zeigen. Dann fragte er noch nach dem allgemeinen Befinden von Barbara, nach Krankheiten, nach dem, was Barbara so täglich zu Hause tat und vor allem, ob sich dabei etwas in letzter Zeit geändert hätte.
Nein, geändert hat sich nichts in letzter Zeit, sagte die Mutter, was den Arzt zu enttäuschen schien.
Wenn alles nur eine Krankheit gewesen wäre, müsste man erwarten, dass dem vermeintlichen Suizidversuch eine Verschlimmerung der Krankheit voraus gegangen war.
Barbara saß schweigend dabei, sie wurde auch nicht gefragt.
Die Eltern waren froh, dass sie mit ihrem Bericht möglicherweise zu einer guten Behandlung von Barbara beitragen konnten. Dann gab der Arzt das Zeichen zum Ende. Fragen schnitt er mit der Bemerkung ab, dass er zu einem späteren Zeitpunkt, vielleicht so nach zehn bis vierzehn Tagen den Eltern genauere Auskunft würde geben können. Barbara schloss daraus, dass also ein längerer Klinikaufenthalt vorgesehen war. Die Eltern schienen darüber gar nicht nachzudenken. Das Gespräch mit Dr. Schamadan hatte jedenfalls der merkwürdigen Situation, dass Barbara in einer psychiatrischen Anstalt gelandet war, nachdem sie den Eltern einen Brief geschrieben hatte, dass sie nicht mehr zu Hause leben wollte, den Anstrich völliger Normalität gegeben.
Barbara  war beeindruckt von ihrer neuen Umgebung. Es war zwar einerseits langweilig, weil es nichts zu tun gab, aber da waren Menschen, mit denen sie sich austauschen konnte, zum Beispiel Franziska und Sylvia. Auch Frau Riebock fand sie interessant, obwohl sie ihr Angst machte. Das war um so unangenehmer, weil sie ihr nicht aus dem Wege gehen konnte.
Und dann passierte immer wieder etwas. Als sie einmal in ihr Zimmer kam, überraschte sie Franz dabei, wie er sich an ihrem Kleiderspind zu schaffen machte. Er stotterte etwas und ging sofort hinaus, als Barbara ihn überraschte. Sie erzählte es Sylvia.
Der klaut. Er war auch schon mal im Gefängnis, sagte sie.
Zwei Stunden später wussten es alle. Noch einmal zwei Stunden später gab es Ärger. Nie hatte Barbara das Personal so unwirsch erlebt wie in diesem Fall. Man hörte, dass ein Portemonnaie aus dem Personalzimmer verschwunden war, das Portemonnaie einer Krankenschwester. Es fand sich im Nachttisch von Franz, aber ohne dass etwas heraus genommen worden wäre. Er behauptete, dass es jemand dort hingelegt habe, um ihn beim Personal anzuschwärzen. Noch am gleichen Tag wurde er entlassen. Diese Klinik würde ihn nicht wieder aufnehmen. Das war schlimm für ihn; denn er würde noch am gleichen Tag rückfällig werden. Die Behauptung von Franz, dass ihm übelwollende Patienten das Portemonnaie in seinen Nachttisch gelegt hätten, wurde ihm als lächerliche Schutzbehauptung nicht abgenommen.
Einige Tage später kam noch einmal die Rede darauf. Einige der Patienten empörten sich beim Mittagessen, dass sich Franz an die Sachen des Personals gemacht hatte. Mit am Mittagstisch saß  Frau Liebold, eine kluge Krankenschwester, die schon viele Jahre in der Psychiatrie arbeitete.
”Es war Ihnen ganz recht, dass er verschwunden ist”, sagte sie und fügte dann nachdenklich und bestimmt hinzu: ”Wir sollten nicht weiter darüber reden.”
Und dann die Therapien. Wie das organisiert war, durchschaute Barbara nicht. Aber im großen und ganzen war es angenehm. Mit dem Arzt reden, das machte Sinn, Sport war auch gut. Die Gruppenveranstaltungen machten ihr sogar Spaß. Sie sagte zwar so gut wie nie etwas, aber die anderen Patienten konnten sich ziemlich erhitzen. Sie war fasziniert zu beobachten, wie die Menschen miteinander stritten: Manchmal kam etwas Gutes dabei heraus, manchmal schien es vergebens und manchmal machte es den Eindruck einer zerstörerischen Unternehmung. Es gab auch Beschäftigungstherapien, zwei Mal die Woche. ”Bastelstunde”, nannten es die Patienten verächtlich. Manches war auch komisch, z. B. die ”Kochtherapie”.
Was dieses Stationsleben, dem sie sich nun anzupassen hatte, mit ihren Problemen zu tun hatte, wusste Barbara nicht. Barbara war nicht aus eigenem Antrieb in die Klinik gekommen. Man hatte sie nicht gefragt. Sie hatte sich sehr ungewöhnlich benommen und ihre Familie erschreckt, weil sie weggegangen war, einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte und am Gelände einer Brücke herum geturnt hatte. Für ihre Lebensumstände interessierte sich keiner vom Personal. Man war daran interessiert, ob sie Fressanfälle hatte, sich schnitt, hungerte oder andere Symptome hatte. Barbara hatte zwar davon erzählt, war aber bislang auf der Station ganz ohne Symptome geblieben. Das Personal schien enttäuscht. Immer wieder war von ihrer Depression die Rede. Das verstand sie nicht. Hier fühlte sie sich weniger niedergeschlagen als zu Hause.
Die Freundschaft mit Franziska und Sylvia war für Barbara ein Gewinn. Sie fühlte sich nicht mehr so allein. Barbara ahnte auch, dass diese Freundschaft nur im Schutz der Klinik gedeihen konnte. Der Druck, dem sie zu Hause ausgesetzt war, würde ihr nicht die Kraft lassen, sich um anderes zu kümmern. Hier war die Familie weit weg. Das Leben auf der Station war das Leben einer abgeschirmten Welt. Barbara saß oft mit Franziska oder Sylvia zusammen, später als sie Ausgang hatte, ging sie oft mit einer von ihnen raus. Das Verhalten von Franziska, das so auffällig war, hatte sich allerdings nur wenig geändert. Manchmal ging es sogar Barbara auf die Nerven.
Einmal saß Barbara im Flur. Die Oberärztin kam auf die Station. Franziska sah sie und schoss auf sie zu.
Muss ich noch Medikamente nehmen? Franziska machte ein Geräusch als wollte sie weinen.
Darüber haben wir doch in der Visite gesprochen. Die Oberärztin  wandte sich um und trat in das Personalzimmer.
Franziska stand auf der Schwelle der geöffneten Tür: Mir geht es schon viel besser. Fast flehentlich: Wann kann ich denn nach Hause?
Ein Pfleger trat auf Franziska zu und drängte sie sanft aber bestimmt von der Schwelle: Jetzt lassen Sie uns bitte in Ruhe!
Franziska wandte sich ab, lief über den Flur und wieder zurück, postierte sich wieder vor dem ”Teamzimmer”, trippelte von einem Bein aufs andere. So stand sie schweigend mit geöffnetem Mund, 20 Zentimeter vor der Schwelle des geöffneten Zimmers, aufmerksam der Unterredung der Oberärztin mit dem Personal lauschend. Schließlich machte jemand die Tür von innen zu. Es war eine Glastür. Franziska stand nun vor der Tür und starrte angestrengt hinein, unablässig von einem Bein auf das andere tretend, die Arme angewinkelt. Für das, was um sie herum geschah, hatte sie kein Interesse.
An einem Sonntag Nachmittag, als es sehr ruhig auf der Station war, erzählte Franziska:
Meinen Vater kenne ich nicht. Meine Mutter war erst 18 Jahre alt, als sie mich bekam. Ihr Vater war sehr streng, Lehrer, und war sauer, als meine Mutter so früh schwanger wurde. Ihre Mutter hatte aber nichts dagegen, sondern freute sich, dass sie ein Baby  haben würde. Mehr weiß ich davon  nicht. Obwohl ich gern meinen Daddy kennen würde. Ich stelle mir vor, dass er ein großer Mann ist, der viel Geld verdient und vielleicht in Italien oder Spanien wohnt. Meine Mutter hat mir nie etwas von ihm erzählt. Ich glaube, in Wahrheit war er Student. Meine Mutter hat einmal einen Prozess geführt, wegen des Unterhalts. Aber ich weiß nicht, wie es genau war. Als ich klein war, lebte ich bei meiner Oma. Die lebt immer noch, aber ist schon ganz alt. Der Opa war nett, aber hatte nichts zu sagen. Dann heiratete meine Mutter. Mit meinem neuen Vater habe ich mich ganz gut verstanden. Er hatte ein Geschäft, er ist Heizungsbauer und hat viel Geld. Meine Mutter hatte immer die schönsten Kleider, es gab aber auch viel Krach zu Hause.
Von meiner Kindheit weiß ich aber gar nichts mehr. Es war alles normal. Meine Mutter kriegte dann noch ein Kind, meinen Bruder. Der ist 5 Jahre jünger als ich. Den hat sie mir immer vorgezogen. Mein Vater, ich meine meinen Stiefvater, nicht so, obwohl ich doch gar nicht sein Kind bin. Dann hat es aber immer wieder Krach gegeben. Ich glaube, ich war der Grund. Ich habe alles falsch gemacht. Mein Vater hatte eine Freundin, glaube ich. Da hat meine Mutter den ganzen Tag geweint und ich habe mit meinem Vater gesprochen. Ich habe ihm gesagt, das ist gemein. Er ist dann mit mir allein ein paar Tage weggefahren. Ich war schon 12. Er hat mit viele Sachen gekauft. Ich glaube, das war die schönste Zeit in meinem Leben. Aber als wir zurückkamen, war meine Mutter ganz sauer auf mich. Jetzt hat mein Vater keine Freundin mehr und die beiden vertragen sich besser.
Ich hatte auch mal einen Freund, Patrick. Der war süß. Dann fing das mit den Stimmen an. Eigentlich habe ich die schon ganz lange. Das weiß aber keiner. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren und habe mich darum von Patrick getrennt. Meine Eltern meinten auch, dass der viel zu alt für mich war. Der hat auch so viel gekifft. Das habe ich da auch angefangen, und das Rauchen. Aber dadurch wurde ich in der Schule noch schlechter. Ich bin dann das erste Mal in die Klinik gekommen, die Jugendpsychiatrie. Mein Vater hat mich aber wieder rausgeholt, weil die mir nur die Medikamente gegeben haben. Die nehme ich jetzt auch. Die Stimmen höre ich aber trotzdem.
Eine Lebensgeschichte, wie man sie in ähnlicher Form nicht selten von jungen Frauen hört, die an einer Schizophrenie leiden.
Vielleicht kann ich am Wochenende wieder nach Hause gehen. Meine Mutter kommt mich ganz viel besuchen. Am Anfang wollte ich das gar nicht. Aber jetzt bin ich froh. Wir verstehen uns auch viel besser als früher.
Sylvia war ganz anders. Sie war rebellisch und musste sich sehr anstrengen, auf der Station nicht ständig aufzufallen. Man würde sie sofort entlassen, wenn sie sich nicht an die Regeln hielt. Sie aber wollte die Behandlung. Einige Wochen später ging sie aber plötzlich weg, ohne dass einer vom Personal oder von den Patienten davon wusste und ließ nichts mehr von sich hören.
Sylvia war oft mit Barbara zusammen, aber es war immer sie, die das Zusammensein lenkte. Sie fragte Barbara viel nach ihrem Elternhaus aus und sie erzählte freimütig von sich selbst.
Ich bin schon das dritte Mal hier und mit den Junkies tun sie sich ja schwer. Mögen die nicht. Dabei habe ich mir diesmal wirklich vorgenommen, clean zu bleiben. Wenn ich wollte, käme ich ja auch hier an Stoff. Nee, ich will‘s wirklich versuchen. Der Redestrom von Sylvia stoppte. Sie blickte weit weg in die Ferne.
Barbara sah der jungen Frau in die blauen Augen und es war ihr, als sähe sie darin ein Meer. Ein Meer, das glitzernd und blau unter der Sonne lag. Schaumkronen sah man hier und dort. Ein weißer Strand zog sich hin bis zum Horizont. Dazwischen gab es Stellen mit Bäumen, die weit hinaus ins Wasser wuchsen, Mangroven mit dem dunklen Grün. Alles war still und doch so lebendig. Es gab keine Menschen, kein Haus. Barbara sah gebannt auf diese Landschaft. Wie schön war die Welt! Sie lief durch das flache Wasser den Strand entlang, fühlte den körnigen Sand und das kühle Wasser an den Füßen. Sie sah den dichten Wald am Rande des Strandes. Dschungel, dachte sie und dachte zugleich an die schweren Düfte seiner Blumen, an schleichende Raubkatzen und an die Schönheit verborgener, gefährlicher Schlangen.  Sie warf sich in den Sand und Sylvia war bei ihr. Die jungen Frauen lachten. Am Rand des Waldes standen große Palmen, manche mit einem schiefen Stamm, so dass die Krone fast den Wasserspiegel berührte. Kokospalmen, mit dicken grünen und braunen  Nüssen, so hart und mit einem dichten Fasermantel, dass sie nicht so leicht aufzukriegen waren.
Barbara betrachtete die sandfarbenen Haare von Sylvia, ihr dunkelgrünes Kleid.
Meine Mutter hatte so viele Männer, sagte sie. Hat keinen gefunden, mit dem sie glücklich wurde. Einer hat sie auf den Strich geschickt und sie hat es für ihn gemacht. Sie glaubt, ich wüsste das nicht. Der war ein Arschloch. Die alte Sau hat es sogar bei mir versucht. Ich hab ihm aber auf die Finger gehauen und  dafür erpresst, bis er abgehauen ist. Jetzt hat sie einen, der ist so viel jünger als sie, einer, der aus dem Kosovo kommt. Sieht gut aus, der Typ.
Sylvia stand auf und ließ Barbara einfach sitzen.
Die Lebensgeschichte und das Verhalten von Sylvia ist einigermaßen typisch für eine Frau, die drogenabhängig ist. So wie sie sich hier präsentiert, ist die Prognose nicht schlecht. Gut möglich, dass sie sich nach ein paar Jahren stabilisiert.
Barbara hatte sich im Krankenhaus eingelebt. Die Mutter kam fast täglich zu Besuch. Cornelia hatte sich nur zwei Mal blicken lassen, aber sie vermisste die Schwester  nicht. Das Personal schien ihre Symptomfreiheit als Erfolg der Therapie anzusehen, war es in gewisser Hinsicht auch war. Sie fühlte sich wohl, wenn man bei ihr diese Kategorie überhaupt anwenden durfte. Sie hatte Kontakte zu Menschen, wie sie es vorher nicht gekannt hatte. Neben Sylvia und Franziska war da noch Frau Riebock bzw. deren Tochter, die etwa im Alter von Barbara war und sich zu Barbara sehr freundlich verhielt. Sie zog Barbara bei ihren Besuchen manchmal in ein Gespräch.
Frau Riebock hat eine schwere Depression.
Frau Riebock war schon mehr als zwei Monate in der Klinik. Sie bekam eine Unmenge Tabletten, aber das schien ihr gar nichts auszumachen. Sie sagte so gut wie nichts, lag stundenlang nur im Bett. Zu allen Veranstaltungen und dem Essen musste sie immer wieder vom Pflegepersonal extra geholt werden. Sie roch auch unangenehm; denn sie vernachlässigte sich. Anfangs sprach Barbara sie vorsichtig an, irgendwann gab sie es auf. Sie interpretierte das Verhalten von Frau Riebock als Zurückweisung. Die wollte wohl nichts mit ihr zu tun haben.
Am Wochenende wurde Frau Riebock von ihrem Mann abgeholt. Sie durfte für zwei Tage nach Hause. Als der Mann sie am Sonntag zurück brachte und gehen wollte, stand Frau Riebock flehend an der Stationstür.
Nimm mich mit!
Herr Riebock küsste seine Frau auf die Stirn und wandte sich an die Krankenschwester, die Frau Riebock unter den Arm fasste. Dann schloss eine andere die Tür auf und ließ Herrn Riebock gehen. Noch lange stand Frau Riebock ausdruckslos vor der Tür.
Das war Sonntag Abend. Am Montag Morgen fand man sie in einem von Blut getränktem Laken. Aber sie lebte und brauchte auch keine Transfusion, wie sich später herausstellte. Mit einer Nagelschere hatte sie sich am linken Handgelenk geschnitten. Diese Schere hatte sie dem Necessaire von Barbara entnommen, obwohl sie ein eigenes Nageletui hatte. Noch am gleichen Tag kam sie aus der Chirurgie zurück, den linken Unterarm verbunden. Sie bekam nun noch mehr Tabletten und wurde in ein Zimmer verlegt, in das das Pflegepersonal bessere Einsicht hatte.
Ron, der auch wegen einer Depression auf der Station war, dem es aber schon einigermaßen gut ging, erzählte, dass er Herrn Riebock mit einer Frau in der Stadt gesehen habe.
Einige Tage später war Barbara allein mit Frau Riebock im Aufenthaltsraum. Frau Riebock saß reglos in einem Sessel, in den sie einer der Pfleger verfrachtet hatte. Von Barbara nahm sie keine Notiz.
Hat ihr Mann eine Freundin? fragte Barbara unvermittelt. Frau Riebock verriet durch nichts, dass sie diese Frage gehört hatte. Sie rührte sich nicht und sagte nichts. Aber einige Zeit später verließ sie abrupt den Raum und verlangte zu duschen. In der folgenden Woche ging es ihr deutlich besser. Sie bestand darauf, weniger Medikamente zu bekommen, und sie drängte auch bei ihrem Mann nicht mehr darauf, nach Hause geholt zu werden. Zwischen ihr und Barbara war offene Feindschaft.
Wie man sieht, ist es nützlich Konflikte offen anzusprechen. Frau Riebock muss von der Freundin ihres Mannes gewusst haben, sonst hätte sie nicht so reagiert. Aber sie brauchte es, dass es einmal offen ausgesprochen wurde.
Schließlich wurde Barbaras Entlassung festgelegt. Montag in einer Woche sollte sie nach Hause gehen.
Die Mutter kam fast täglich zu einem Besuch in die Klinik. Aber auf der Station fühlte sie sich überhaupt nicht wohl und darum ging sie immer mit ihrer Tochter in dem schönen Park spazieren. Doch heute regnete es so heftig, dass sie den Spaziergang abbrechen mussten und in die Cafeteria der Anstalt gingen. Normalerweise vermieden die beiden die Cafeteria, Barbara weil sie dort nicht die Patienten treffen wollte, Ursula Rein, weil sie sich unter behinderten Menschen nicht wohl fühlte.
Als sie sich setzen wollten, trafen sie auf Franziska, die mit ihrer Mutter an einem der Tische saß. Sie stand auf, als sie die beiden sah.
Hallo Barbara! Meine Mutter und ich essen Kuchen und trinken Kaffee. Ihr auch?
Ursula Rein schaute etwas irritiert auf das junge Mädchen. Barbara versuchte zu erklären:
Das ist Franziska.
Guten Tag, sagte Frau Rein.
Franziska blickte zu ihrer Mutter, die unbeteiligt schien, dann wieder zu Barbara. Die beiden jungen Frauen standen einander gegenüber, jede halb ihrer Mutter zugewandt.
Wir wollten spazieren gehen, aber es regnet zu stark, bemerkte Barbara schließlich schüchtern. Das sollte eine abschließende Bemerkung sein, und sie setzte sich zur Mutter. Die hatte der anderen Mutter zugenickt und wartete auf eine Erwiderung des Grußes, ein Kopfnicken oder ein Lächeln oder ein Wort. Aber sie bemerkte nichts und wandte sich schließlich wieder Barbara zu.
Franziska stand immer noch da.
Meine Mutter und ich gehen immer hierher. Hier kann man Kuchen essen und Kaffee trinken. Aber ich trinke lieber eine Limo oder Cola, fuhr Franziska in ihrer albernen Art fort.
Ihre Mutter schaute gleichgültig in die Luft, nippte an Ihrem Kaffee, nahm auch nicht von ihrer Tochter Kenntnis.
Barbara sprach mit ihrer Mutter, die laute Rede von Franziska in ihre Richtung war jedoch nicht zu überhören. Die beiden Frauen wandten ihre Aufmerksamkeit wieder Franziska zu. Franziska stand noch an der gleichen Stelle und streckte ihre Arme in Richtung Barbara, als flehte sie um etwas. Aber etwas hielt sie fest, als sei sie angebunden. Ihre Mutter blickte durch alle hindurch.
Franziska will Kontakt zu Barbara. Aber in Gegenwart der Mutter kann sie es offensichtlich nur dann, wenn sie von der eine irgendwie geartete Unterstützung bekommt, vielleicht nur einen zustimmenden Blick. Die Mutter gibt Franziska aber diese Unterstützung nicht, was man so interpretieren könnte, dass sie eigenständige Aktionen von Franziska nicht ertragen kann. Franziska ist wie eingeklemmt in dem Bedürfnis, sich an Barbara zu wenden, und dem Zwang, die Zustimmung der Mutter abzuwarten. – Wenn man sich vorstellt, dass es zwischen Franziska und ihrer Mutter immer so gewesen war, dann wird verständlich, dass Franziska keine Autonomie entwickeln konnte.
Wie auf einem Photo blieb die Situation einige quälende Minuten lang unverändert. Franziska fing an zu zittern. Dann lachte sie überlaut, hörte mit dem Lachen nicht mehr auf. Sie lachte und lachte, nur für sich. In die Gruppe kam Bewegung.
Sie hört wieder ihre Stimmen, sagte die Mutter, griff ihr unter den Arm und zog Franziska an der Kasse vorbei, wo sie zahlte, hinaus.
Auf der Station war Franziska mehrere Tage in einem Zustand heftiger Erregung.  Sie lachte, schrie und sprach mit ihren Stimmen. Aber sie war auch aggressiv und attackierte das Personal. So musste sie einige Tage ans Bett gefesselt werden. Franziska bekam mehr und andere Medikamente. Nach etwa zwei Wochen war wieder alles wie früher.
Das bevorstehende Entlassungsgespräch mit dem Oberarzt ließ die anfängliche Hoffnung der Eltern, mit der Klinikaufnahme werde sich nun alles zum besseren wenden, wieder aufleben. Möglicherweise würde der Oberarzt wichtige Aufschlüsse geben, die es den Eltern leichter machen würden. Barbara war krank, hatten sie gelernt, und das hatte sie zunächst erleichtert; denn Krankheiten erzeugen die Hoffnung, dass man sie auch heilen kann.
Dr. Hoffmann bekräftigte zunächst noch einmal die Diagnose: Borderlinestörung.
Diese Störung ist durch ihre Symptome definiert. Die Patienten können nur schwer allein sein und sie neigen zu schädlichen Impulshandlungen, die keinen bestimmten Zweck haben. Dazu gehören Fressanfälle, hungern, sich schneiden, Alkoholexzesse, Klauen oder ähnliches. Es ist für diese Menschen auch schwer, Gefühle zu empfinden, also zum Beispiel Ärger oder Freude.  Darum basieren viele therapeutischen Maßnahmen darauf, mit den Patienten zu üben, ihre Gefühle wahr zu nehmen. Bei Ihrer Tochter ist es insofern anders, als zusätzlich eine Depression besteht und Zwangsstörungen. Wir haben darum auch erst die Depression behandelt, und zwar mit Medikamenten, die auch gegen die Zwangssymptome wirksam sind.
Woher kommt diese Störung? das wollten die Eltern vor allem wissen. Aber diese Frage brachte den Oberarzt etwas in Verlegenheit.
Wir wissen es nicht genau, sagte er.
Vielleicht spielen Erbfaktoren eine Rolle. Von der Depression wissen wir ziemlich genau, dass sie meistens durch Erbfaktoren bedingt ist.
Man wolle versuchen, die Verhaltensweisen und bestimmte kognitive Einstellung von Barbara zu verändern, erläuterte der Oberarzt des weiteren. Ein Selbstsicherheitstraining, das Erlernen größerer sozialer Kompetenzen wäre sicher auch nützlich. Das leuchtete den Eltern ein.
Die Vorstellung, dass Barbara an einer Krankheit litt, hat noch einen verführerischen Aspekt. Wenn es nur eine Krankheit ist, dann betrifft die Behandlung ausschließlich Barbara. Die Eltern können bleiben, wie sie sind.
Schließlich empfahl Dr. Hoffmann  den Eltern die Teilnahme  an einer Familienberatung, wie sie an der Klinik seit längerem durchgeführt wurde. Dort würden sie Hilfe bekommen, um sich auf die Krankheit von Barbara einstellen zu können
Die Eltern Rein nahmen an einem dieser Informationsabende teil. Es waren viele Angehörige von psychisch Kranken, meist mit den Patienten, gekommen. Viele kannten sich, was man an der Art der Begrüßung merken konnte. Die Oberärztin der Klinik, assistiert von einer jungen Psychologin, leitete das Gespräch. Es war nützlich für die Eltern Rein. Es bekräftigte ihre neue Überzeugung, dass Barbara krank sei. Das war entlastend. Aber dann gingen sie nicht mehr hin.


Zum Kapitel 12: Meta