10. Späte Liebe – die Kraft familiärer Bindungen

Lothar Rein war 62 Jahre, als ihm die Firma nahe legte, etwas vorzeitig in Rente zu gehen. So wie er es immer gehalten hatte, machte er es auch in dieser Situation. Er tat das, was man von ihm erwartete.
Abschiede in Betrieben sind fast wie Beerdigungen. Jedenfalls sind es Trauerfeiern mit Erben, die ihre wahren Gefühle verbergen – auch vor sich selbst. So waren es nur wenige, die wirklich mit Lothar Rein fühlten. Aber da er auch in dieser Situation selbst nicht viel fühlte, war es irgendwie auch passend. – Der, der die förmliche Abschiedsrede hielt, hatte viele Jahre von der angenehmen Arbeitsweise Lothar Reins profitiert und hatte auch seinen eigenen nahen Abschied vor Augen. Die Gerührtheit, die von dem Redner ausging verbreitete sich auf die Festversammlung. Und da war auch noch die Sekretärin von Lothar Rein, eine stille, fleißige Frau, die mit Lothar Rein ergraut war. Sie weinte.
Lothar Rein ging in Rente, ohne über die Folgen nachzudenken. Nun war er den ganzen Tag zu Hause und wusste gar nicht, was er tun sollte. Sich im Haus zu schaffen zu machen, war weder seine Gewohnheit noch hätte es seine Frau geduldet. Unerledigte Dinge, auf deren Erledigung sich so viele Menschen vor der Berentung freuen, gab es nicht. Das Fernsehen interessierte ihn nicht. So saß er unbeschäftigt oder Zeitung lesend im Haus, schweigsam wie er geworden war. War er unglücklich? Die bissigen Dialoge zwischen ihm und seiner Frau hatten mit den Jahren abgenommen. Vielleicht lag es daran, dass keine Zuhörer mehr da waren, die jeder hoffte, auf seine Seite ziehen zu können.
Ursula Rein versorgte ihren Mann ordentlich. Er war ihr Mann. Und da er ihre Fürsorge annahm, gab es auch keinen Grund zum Streit. Es waren einige ruhige Jahre, die die beiden miteinander hatten. Es kamen mitunter auch wieder Unterhaltungen auf. Eine Bemerkung über das Wetter, die nicht als Vorwurf missverstanden wurde. Die  Tochter hatte angerufen und mitgeteilt, dass sie mit den Kindern am nächsten Tag für zwei Wochen nach Mallorca fliegen würde. Es waren karge Unterhaltungen, hingeworfene Sätze, die in resignativer Toleranz nicht auf einer Antwort bestanden.
Die Beziehungsstruktur zwischen ihnen ist geklärt. Jetzt treten wieder die liebevolleren Züge ihrer Beziehung in den Vordergrund. Sie waren immer da, aber können sich jetzt  besser entfalten.
Sie waren miteinander alt geworden, 42 Jahre miteinander verheiratet, zu lange, als dass es noch irgendeine Alternative in ihren Herzen gegeben hätte. Ihre Körper zeigten die ersten Spuren des wirklichen Alters, den krumm gewordenen Rücken, den schleppenden Gang, die Falten im Gesicht von Lothar und die Runzeln um den Mund bei Ursula Rein. Es waren noch leichte Ausprägungen. Insbesondere Ursula Rein war nach wie vor eine ansehnliche Frau, immer noch wurde sie von den Männern beachtet, wenn es auch nun die grau- und weißhaarigen waren. Aber was nutzte das? Sie hatten die Schwelle des Alters überschritten. Das machte sie dem Leben gegenüber fügsamer.
Ursula Rein ging zu Cornelia, wenn sie ihre Tochter oder die Enkel sehen wollte. Die kamen selten zu Besuch, obwohl sie doch in der selben Stadt wohnten. Nur bei größeren Festen kam die kleine Familie schon mal vollständig im Hause der Reins zusammen.
Lothar Rein hatte die Gewohnheit angenommen, sich täglich die Zeitung von einem Kiosk zu holen, der etwas weiter entfernt war. So verschaffte er sich Bewegung und gab dem Tag Struktur. Es war eine überregionale Zeitung, an der er lange lesen konnte, auch nachdem er zum Frühstück schon die lokale Zeitung durchgeblättert hatte. Wenn man nichts zu tun hat, dann tut man die Dinge im Gleichmaß. Es ist der Mangel an Zeit, der zu Improvisation verführt. Lothar Rein stand um halb acht auf. Um halb neun war er mit dem Frühstück fertig. Um 9 ging er aus dem Haus, die Zeitung zu holen, bei jedem Wetter, von Montag bis Samstag. Er las in der Zeitung bis halb eins. Dann stellte seine Frau das Essen auf den Tisch.
Eines Tages, es war ein nebeliger Tag im Oktober, kam Lothar Rein mit der Zeitung zurück und hatte Schwierigkeiten beim Sprechen.
Es ist, … ist … grau. Nein, ist …
Lothar Rein setzte sich, noch im Mantel, auf einen Stuhl in der Küche. Sein Gesicht war blass, fast grau. Ursula Rein begriff sofort, dass es ernst war. Sie rief den Arzt. Da sich Lothar Rein schnell erholte, blieb er zu Hause. Nach wenigen Stunden waren die Symptome wieder verschwunden. Das Ganze wiederholte sich nach ein paar Wochen. Und eines Morgens wachte Lothar Rein auf und konnte den rechten Arm nicht bewegen. Der rechte Mundwinkel fiel herunter. Lothar Rein hatte Schwierigkeiten beim Essen und Trinken, die Speisen liefen ihm auf der gelähmten Seite teilweise wieder heraus. Ein Schlaganfall war es, die Sprechschwierigkeiten waren die Vorboten gewesen. Lothar Rein kam ins Krankenhaus. Dann gab es eine intensive Rehabilitation. Aber den Arm hielt er noch immer angewinkelt und der Mund blieb schief. Er brauchte jetzt einen Stock, wenn  er außer Haus ging.
Die Zunahme der Arbeit, die durch die Krankheit ihres Mannes bedingt war, akzeptierte Ursula Rein ohne Klagen. Auch in ihrem Inneren machte sie ihm  keine Vorwürfe für das, was ihr durch ihn zugemutet wurde. Es war merkwürdig. In ihrem Herzen machte sich sogar so etwas wie Versöhnung breit. Es war ein schüchterner Versuch der alten Frau, ihren Mann endlich doch zu lieben. Vielleicht war es das. Ursula Rein konnte nun alles für ihn tun.
War es nicht immer ihr Trachten gewesen, dass die Menschen ihrer Umgebung durch sie lebten, gut lebten? Mehr hatte sie doch nie gewollt, nicht bei ihrem Mann und nicht bei Barbara! Wenn sie sich aufopferte, fühlte sie in der Erschöpfung, dass sie doch etwas Gutes in sich hatte. Dafür waren die Menschen um sie herum Zeugen. Barbaras Schuld war, dass sie ihrer Mutter dieses Zeugnis verweigert hatte. Sie wollte die Milch ihrer Mutter nicht. Vergiftet sei sie gewesen, die Milch, hatte ihre Tochter behauptet.
Es war ein Tag im Vorfrühling, keine drei Jahre nach dem ersten Anfall, als ihn seine Frau am Morgen tot in seinem Schlafzimmer fand. Er lag auf dem Boden, etwa zwei Meter vom Bett entfernt. Die Muskelstarre war bereits eingetreten, also musste der Tod schon früh in der Nacht gekommen sein. Lothar Rein hatte sich beim Fallen verletzt, er hatte Blut verloren, woraus man schließen konnte, dass er nach dem Sturz noch eine halbe oder ganze Stunde gelebt hatte. Die kleine Nachttischlampe brannte. Frau Rein war an dem Abend weg gewesen und gegen 23 Uhr nach Hause gekommen. Da sie im Zimmer ihres Mannes kein Licht sah, war sie davon ausgegangen, dass er bereits schlief. Lothar Rein hatte also danach noch einmal das Licht angeknipst und das Bett verlassen. Der Sturz musste  durch einen erneuten Schlaganfall verursacht worden sein.
Unter den Trauergästen der Beerdigung, Mitarbeiter der alten Firma, Nachbarn und Bekannte der Familie Rein, war auch Robert mit seiner Frau. Auch Robert war inzwischen ein alter Mann. Er arbeitete noch ziemlich intensiv und weigerte sich so gut es ging, in seiner Lebensführung Zugeständnisse an das Alter zu machen. Aber es half nichts, er war dem Tod schon so nahe gerückt, dass er nur noch die Dinge seines Lebens abschließen konnte. Das Neue war Sache der Jungen. Jetzt, als sie den alten Freund Lothar Rein zu Grabe trugen, war es ihm wieder schmerzlich bewusst.
Lothar Rein wurde bei seiner Tochter beerdigt. Es war ein alter Friedhof, weiträumig angelegt, mit großen Bäumen. Das Grab von Barbara, zu dem sich der Trauerzug bewegte, lag versteckt zwischen Hecken und Büschen. Es war dort Platz genug für die ganze Familie. Aber Barbara war bislang die einzige und da sie einen kleinen Grabstein hatte und nur Efeu und etwas Erika auf ihrem Grab wuchsen, konnte man das Grab kaum erkennen. Barbara hatte ein ruhiges Eckchen. Wie früher auf dem Kinderspielplatz hatte Ursula Rein oft auf der Bank davor gesessen. Ihr alter Groll war weg. Barbara war ihr wieder nahe. Sie fühlte wie in alten Zeiten, wenn das Kind auf sie zugerannt kam. Dann jauchzte die Kleine und Ursula Rein war glücklich. Oder sie hatte sich weh getan und fand Trost in den Armen der Mutter. Ursula Rein wusste, dass auch Barbara die Stille des Ortes liebte.
Heute war eine Grube ausgehoben, es gab Blumen, Kränze und den  Erdhügel. Als der Sarg in die Grube gelassen wurde, als Lothar Rein neben seine Tochter gebettet wurde, empfand Ursula Rein keine Eifersucht. Die Eifersucht hatte ihr früher das Leben so oft vergällt. Jetzt war es in Ordnung so, dass die beiden beieinander lagen und miteinander reden konnten. Sie stand vor dem offenen Grab. Die Menschen um sie herum hatten einige Meter um die Witwe frei gelassen. Ursula Rein glaubte nicht an das, was der Pfarrer  sprach. Aber seine Worte machten sie ruhiger. Es war der Glaube ihrer Kindheit. Sie dachte an ihren eigenen Tod.
Die beiden werden dann etwas zusammenrücken müssen, dachte sie, fast ein wenig belustigt.
Da bist du ja endlich, wird ihr Mann zu ihr sagen.
Und es wird nicht, wie früher so oft, gehässig klingen, sondern ein Seufzer der Erleichterung sein. Sie sah weit hinaus in die zeitlose Zukunft der Toten. Sie und ihr Mann und Barbara, Seelen, die sich am Horizont der Zeit ineinander aufgelöst hatten.
Einige Schritte hinter ihr stand Cornelia mit den Kindern. Sie war vor kurzem geschieden worden. Ihre Tochter Julia war gerade 5 Jahre alt. Als ganz kleines Mädchen war Julia auf den Opa zugegangen, und der war ganz überrascht gewesen. Es gab keine Verpflichtungen und keine Vorschriften, die ihm irgend jemand im Umgang mit dem Kind machte, und so hatte sich, vielleicht das erste Mal in seinem Leben, sichtbare Zärtlichkeit bei ihm entwickelt. Er hing an dem Kind, und die Kleine spürte das und hing an ihrem Opa, obwohl sie ihn nicht oft sah; denn ihre Mutter ging ja nicht oft in das Haus der Eltern.
An ihre Tante Barbara hatte Julia keine Erinnerung mehr, obwohl sie sie noch gekannt hatte. Nachdem Barbara tot war, wurde über sie geschwiegen. Besonders Ursula Rein sprach niemals von  ihrer ältesten Tochter.
Der Tod von Lothar Rein war ein Verlust für die Kleine, besonders jetzt nach der Scheidung der Eltern. Aber während die Menschen am Grab mit der Vergangenheit von Lothar Rein beschäftigt waren, dachte sie über die Zukunft nach. Sie hörte den Mann am Grab sprechen und dachte, dass sei der Tod, der den Opa mitnahm; denn er hatte ja schwarze Sachen an. Dann sprach er vom Himmel, in dem der Opa leben würde. Der Himmel war oben, aber das Grab war unten.
Wie kommt man in den Himmel, wenn man in das Loch geht?
Das würde sie gleich ihre Mama fragen. Und:
Warum ist der schwarze Mann  nicht mitgegangen?
Einfacher war es, sie stellte sich vor, dass der Opa nun da unten mit der Tante Barbara zusammen lag. Der Opa war nicht allein in der kalten Erde. Es war ein sonniger Tag. Da konnte man sich hier wohl fühlen. Gleich, wenn alle Menschen gegangen sein würden, würde wieder Ruhe sein. Es war bestimmt auch für die Tante Barbara besser, dass sie nun nicht mehr allein war. Das Wetter ist ja nicht immer so schön. Wenn es kalt ist, wenn es regnet und stürmt, dann ist es besser, man kann sich aneinander kuscheln. Und nachts brauchte sie sich jetzt auch nicht mehr zu fürchten.
Nach der Beerdigung hatte Ursula Rein sehr schnell das Zimmer ihres Mannes aufgeräumt. In der Schublade des Nachttischchens fand sie viel Kram, Zettel, Taschentücher, Medikamente, ein Nageletui und Kugelschreiber. Unter anderem fand sie dort ein ziemlich altes Foto von sich. Es musste kurz nach der Geburt von Barbara entstanden sein. Sie war noch sehr jung auf dem Bild und sie machte einen fröhlichen Eindruck. Auf der Rückseite des Fotos stand ihr Name. Der Schrift nach zu urteilen, musste es ihr Mann nach dem ersten Schlaganfall geschrieben haben.
Barbara war ohne Kinder geblieben. Es waren die Kinder von Cornelia, Julia und ihr Sohn Jan, die das Leben fortsetzten. Cornelia kämpfte bei der Scheidung nicht um die Kinder – und das erwies sich als Vorteil. Da sie nicht kämpfte, verwandte ihr Mann auch nicht viel Kraft darauf, etwas zu fordern. Nach der Trennung wollte er die Kinder zwar oft sehen, aber nicht haben. Schließlich vergaß er sie fast. Wie es Cornelias Art war, nahm sie es hin. Sie verdiente ihr Geld und, da es nicht viel war, musste sie sich sehr einschränken. Aber sie blieb unabhängig. Ansonsten hatte sie, wie immer, den Schmerz aufgesogen, den ihr Mann empfand, weil seine Ehe gescheitert war, die Peinlichkeit, mit der es Ursula Rein aufnahm, und die Trauer der Kinder. Davon lebte sie.
An der Schwelle zum Alter fand Cornelia einen Mann, der ihre selbstlose Art zu schätzen wusste. Sie wurde richtig glücklich. Das Drama der Jugend um Leidenschaft und Selbstbezogenheit, das mit wechselnden Besetzungen immer neu gespielt wird, war für sie nie interessant gewesen, für ihren neuen Mann langweilig geworden. Sie war gesund, ihr neuer Mann war rüstig und ermunterte sie, sich mit ihm in der Welt umzusehen.
Ihr Sohn Jan war etwas bieder geraten, aber seine grundsolide Art war die Basis für das Gedeihen seiner vielköpfigen Familie und der Geschäfte. Die Tochter Julia war als Photographin erfolgreich. Und da sie eine attraktive Frau war, mangelte es ihr nicht an Verehrern, womit sie wett machte, dass sie zu einer stabilen Beziehung nicht in der Lage war.
An ihren Großvater blieb ihr eine dunkle, angenehme Erinnerung. Mit ihrer Großmutter hatte sie länger zu tun, da sie ziemlich alt wurde. Doch blieb ihr diese Frau fremd, und sie hat nie verstanden, warum der in ihrer Erinnerung so gutmütige Großvater die kauzige Großmutter geheiratet hatte.


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