15.3. Das zweite Ende der Geschichte

Seine Frau hatte zum Samstag Freundinnen zum Kaffee geladen.
Die werden bestimmt bis zum Abend bleiben. Am besten du bist gar nicht im Haus, beschied sie ihn mit Bestimmtheit. Er beschloss, aufs Land zu fahren.
Er suchte sich Wege durch Felder und Wälder, wo er nur wenigen Menschen begegnete. Anfangs kam er sich etwas verloren vor, so allein. Aber dann überkam ihn allmählich ein Gefühl von Sicherheit und Kraft. Er sah mit Aufmerksamkeit in die Landschaft. Er begann laut zu sprechen. Es war kein Zwiegespräch, kein Gespräch, mit dem er Gedanken klären wollte. Es war eine Rede, die er der Welt und sich selbst hielt. Immer wieder blieb er stehen, reckte sich und rief den Wolken, den Wäldern und der Sonne etwas zu. Es waren ungestaltete Worte. Er wollte nichts Bestimmtes sagen. Er wollte bezeugen, dass er da war, lebte. Er wollte es so.
Es war ein warmer Tag im August. Die Sonne schien. Robert wanderte stundenlang. Wenn er müde war, legte er sich unter die Bäume. Weit und breit kein Mensch, selten ein Haus oder ein Gefährt. Nur das Rauschen der Bäume, ab und zu das Summen der Insekten. Robert war beeindruckt von der Ruhe der Welt um ihn herum. Er war jetzt ganz friedlich. Kleine Wolken segelten langsam von links nach rechts. Er schaute in die Blätter der Bäume, in die Äste, sah das Licht und stellte sich vor, dass sich die Sonnenstrahlen nach der langen Reise freuten, endlich ein Ziel gefunden zu haben. So fühlte er sich mit dem weiten Raum hinter der Erde verbunden. Er war erschreckt. Es war so still. Ist das alles tot hier? Der Wind strich über seine Haut, die Gräser bogen sich, und er sah und hörte allmählich Leben. Das Leben ist langatmig dachte er. Auf geheimnisvolle Weise passte alles. Der Vogelflug jetzt, der kümmernde Baum da hinten und die riesige Ausdehnung des Baumes dort. Nichts sollte anders sein. Wie ein großes Tier atmete die Landschaft.
Es war schon dunkel, als er mit der Bahn zurück fuhr. Das Abteil war leer. Es roch nach kaltem Zigarettenqualm. Auf einem Sitz lag eine zerfledderte Zeitung. Später stieg ein junges Paar dazu, drückte sich in eine Ecke und knutschte. Robert dachte an nichts. Erst als der Zug durch die Vorstädte fuhr, als er von hinten in die erleuchteten Fenster sah, wurde er aufgeregt. Er sah die Menschen.
Jeder von diesen ist allein, dachte er. Woher beziehen diese Menschen den Sinn für ihr Leben? Er konnte diese Frage nicht beantworten. Er konnte sie auch nicht lassen. Er konnte sich auch nicht sagen: Es gibt keinen Sinn.
Es war nun alles ganz anders als vorher. Er war erfüllt von dem Gedanken, dass er Menschen brauchte. Es packte ihn, als hätte er noch nie daran gedacht. Er wollte den Menschen nahe sein, sie lieben. Robert stand auf, ging in dem Abteil hin und her. Stellte sich ans Fenster, dann setzte er sich wieder. Er hatte Schwierigkeiten, seinen Gedanken Worte zu geben.
Seine Frau fiel ihm ein. Schrecken überfiel ihn, dass er sie verlieren könnte. Als er zu Hause ankam, mochte Robert nicht mehr an das denken, was ihn den Tag über beschäftigt hatte. Morgen würde er weiter darüber nachdenken, oder auch erst übermorgen oder irgendwann.
Es war tiefe Nacht, als er zusammen mit seiner Frau die Gäste vor die Tür brachte. Er blickte nach oben. Es war eine kühle, klare Sommernacht ohne Mond. Über sich konnte er, trotz der vielen Lichter aus der Stadt, einige Sterne sehen.
Wenn ein Gott Barbara als Sternbild in den Himmel gesetzt hätte, dachte er.
Sternbilder sind gar keine Bilder, sind Relationen der fernen Sonnen zueinander, und auch das nur aus unserer Erdperspektive. Die Seeleute denken, das hat jemand für sie aufgehängt, damit sie ihren Weg finden. Der Sternenhimmel zog ihn in seinen Bann.
Sternbilder sind Heldenbilder. Barbara war alles andere als eine Heldin. Zu der passt besser eines der schwarzen Löcher –  die Mösen des Weltalls. Robert musste innerlich lachen.
Was gibt es denn da zu sehen? fragte seine Frau. Sie wunderte sich über Robert, der mit dem Kopf im Nacken nach oben starrte.
Man sieht Sterne, antwortete er trocken.
Ach ja? sagte sie.
Die saugen alles auf, alle Energie und Materie, sagte Robert. Aber irgendwann müssen sie doch auch was ausspucken!
Wer saugt? fragte seine Frau irritiert. Die Sterne?
Robert musste nun laut lachen und drückte sich an sie.
Ja, sagte er. Sie spürte, dass er ihre Nähe wollte und legte den Arm um ihn.
Komm! sagte sie und zog ihn ins Haus.